- 190 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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dienen vielmehr als Katalysator, der die Entwicklung in den Reihen der Franzosen in Gang hält. Vor diesem Hintergrund spielt sich die eigentliche Thematik des Films ab: Malle setzt in jenes korrigierte Geschichtsbild die Geschichte eines Individuums, des Bauernjungen Lucien. Er zeichnet das sachliche Porträt eines ewigen Mitläufers, der über keinerlei kulturelle Abwehrkräfte verfügt: »Ich habe [. . . ] zeigen wollen, wie das Räderwerk des Faschismus bei einem jungen Menschen funktioniert, der zu einer Art ›Lumpenproletariat‹ gehört und außerstande ist, sich Rechenschaft über das zu geben, was er tut.«92
92 Louis Malle, ohne Quellenangaben, zit. n. Tata 1979, S. 15.

In Zusammenhang mit Luciens sozialer Einordnung ist das erste Zitat einer Sonate Beethovens von Bedeutung. Als Jean-Bernard Lucien zum ersten Mal zu dem jüdischen Schneider Horn bringt, ertönen bereits im Garten entfernt die ersten Takte von Beethovens im Jahre 1821 entstandener Klaviersonate Nr. 31 As-Dur op. 110, I. Satz (vgl. Abbildung 9.2).93

93 Ludwig van Beethoven: Sonate Nr. 31 As-Dur op. 110, hrsg. von Breitkopf und Härtel (= Ludwig van Beethovens Werke. Vollständig kritisch durchgesehene überall berechtigte Ausgabe, Serie 16: Sonaten für das Pianoforte, Bd. II. Leipzig o. J., S. 113.



Abbildung 9.2: L. v. Beethoven: Sonate Nr. 31 As-Dur op. 110, I. Satz


Es ist der zweite Teil des ersten Themas, ein geradezu »singender Anschlag«, eine elegisch strebende, begeistert aufschwingende Melodie über einer konventionellen Sechzehntelbegleitung. Als Lucien und Jean-Bernard sich dem Haus durch den Garten nähern, erklingen die ersten vier Takte dieser Melodie, die zusammen mit dem Gezwitscher der Vögel eine friedliche Idylle assoziiert. »Frühlings Erwachen« schwebte auch Wagner vor, als Liszt ihm op. 110 vorspielte.94

94 Paul Badura-Skoda/Jörg Demus: Die Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven. Wiesbaden 1970, S. 202.
Doch diese Idylle ist trügerisch, wie bereits die erste Szene des Films gezeigt hat. Sie ist eng verwoben mit brutaler Gewalt. Im Treppenhaus werden die Klänge lauter, räumlicher. Als Jean-Bernard an die Wohnungstür klopft, bricht die Sonate ab. Es muß also jemand in der Wohnung Klavier gespielt haben. Die Idee zu dieser Art Musikeinsatz kam Malle während seiner Drehvorbereitungen: »Als ich eines Tages durch Figeac ging,

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