- 189 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (188)Nächste Seite (190) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

der sich zu alledem noch mit dem Etikett von Bildung umgibt. Die Tatsache, daß Für Elise auf dem Musikalienmarkt seit mehr als einem Jahrhundert ein Verkaufsschlager ist, hat jedoch eine solche Motivation aus sich selbst heraus vereitelt.

9.4.  Exkurs: Louis Malle: Lacombe, Lucien

In Louis Malles historisch-politischem Film Lacombe, Lucien aus dem Jahre 1974 erfüllt das Zitat ebenso die Funktion eines sozialen Indexes; es ist Träger einer Milieustudie.

Der Film beginnt mit einer aussagekräftigen Szene: ein junger Mann wischt den Fußboden eines Krankenhaussaales. Vor dem offenen Fenster zwitschert ein Vogel im Baum. Der Junge geht ans Fenster, zieht eine Schleuder aus der Tasche, zielt auf den Vogel und trifft. Gefieder staubt auf, das kleine Tier fällt tot zu Boden. Eine leise Genugtuung über seine Treffsicherheit huscht über sein Gesicht. Der junge Mann ist der siebzehnjährige Bauernjunge Lucien (Pierre Blaise). Schauplatz: die französische Provinz im Jahre 1944. Frankreich ist noch von den Deutschen besetzt. Zu Hause ist Lucien nicht gerne gesehen. Er bittet den Lehrer Peyssac, in die Résistance aufgenommen zu werden. Dieser lehnt ihn ab. Daraufhin gerät er mehr aus Zufall in den Kreis französischer Kollaborateure: da ist Jean-Bernard de Voisins (Stéphane Bouy), ein gelangweilter Snob aus einer adeligen Familie, seine Geliebte Betty, Aubert, ein abgehalfteter Radrennfahrer und der schwarze Hyppolite. Lucien wird einer von ihnen, er bekommt eine Schußwaffe. Jean-Bernard bringt ihn zu Albert Horn (Holger Löwenadler), der ihm einen neuen Anzug machen soll. Horn ist ein jüdischer Schneider aus Paris, der sich mit seiner zwanzigjährigen Tochter France (Aurore Clément) und seiner alten Mutter (Therese Giehse) in dem Städtchen versteckt hält. Lucien macht seiner jungen Tochter ungeschickt den Hof. Er nimmt sie mit auf eine Party. Dort wird sie seine Geliebte. Mittlerweile kämpft die Résistance immer radikaler, Jean-Bernard und Betty werden getötet. Der alte Horn kann sein Dasein im Unterschlupf nicht länger ertragen und liefert sich selbst den Kollaborateuren und damit der Gestapo aus. Als France und ihre Großmutter ebenfalls deportiert werden sollen, erschießt Lucien überraschend den SS-Mann und flieht mit den beiden aufs Land. France und Lucien, von der Großmutter stoisch beobachtet, werden zu unbeschwerten »enfants sauvages«: sie spielen in den Wäldern und baden im Fluß. Über der letzten Einstellung von Luciens Gesicht wird ein Insert eingeblendet: »Lucien Lacombe wurde am 12. Oktober 1944 verhaftet. Vor einem Militärgericht der Résistance wurde er zum Tode verurteilt und hingerichtet.«

Lacombe, Lucien ist der zweite von insgesamt drei Filmen in den frühen Siebzigern, in denen Malle Heldinnen und Helden aus dem französischen Provinzleben schildert. Er analysiert das in Frankreich noch immer umstrittene Thema der Kollaboration. Die Reaktionen auf den Film waren zweischneidig. Einerseits wurde er als ein Meisterwerk gepriesen, andererseits griff die Kritik den Streifen scharf an, denn Malles Aufbereitung der sogenannten Vichy-Zeit entsprach nicht mehr dem bis dahin gern gesehenen Schwarz-Weiß-Muster der idealisierten französischen Geschichtsschreibung.91

91 Wiesent Tata: Louis Malle. Witten 1979, S. 15.
Bisher galt: auf der einen Seite waren die feindlichen Deutschen, auf der anderen die französischen Widerstandskämpfer. Malle hingegen kratzt an der Legende der Résistance. Er zeigt jene Verfilzungen zwischen Besatzern und Besetzten und stellt damit die Frage nach dem »Gesicht« des Faschismus; Gut und Böse gibt es nicht. Die Deutschen erscheinen hier nicht als Feindbild; sie

Erste Seite (i) Vorherige Seite (188)Nächste Seite (190) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 189 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik