- 208 -Lehmann, Silke: Bewegung und Sprache als Wege zum musikalischen Rhythmus 
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Hier bestätigt sich in der praktischen Arbeit der Sachverhalt, dass der Weg zur souveränen Ausführung nicht in klar voneinander abgegrenzten Arbeitschritten abläuft im Sinne von ›erst den Grundschlag üben, dann an Rhythmen arbeiten‹. Zeitgestalten – gerade die in der Musik – sind vielschichtig und komplex. Viele eng verwobene Aspekte müssen gleichzeitig berücksichtigt werden, um Schülerinnen und Schülern in Problemsituationen zu helfen.

In Marion Saxers Bericht heißt es an einer Stelle:

Der Versuch, das rhythmische Gefühl des Jungen durch Gehen im Raum anzuregen, fiel ziemlich unbefriedigend aus: Mit nur mühsam unterdrücktem Widerwillen versuchte Robert, den von mir vorgeführten Gleichschritt mitzumachen. Es gelang ihm nicht. Eine unmittelbare Nachahmung einer regelmäßigen Bewegung war ihm auch gehend nicht möglich. (ebd., S. 12).

Diese Textstelle kann als exemplarisch für den in der Musikpädagogik weit verbreiteten Irrglauben gelten, Rhythmus wäre über Fortbewegung ideal zugänglich. Die Anregung, unrhythmische Lernende durch Gehen zu mehr zeitlicher Stabilität zu bewegen, wird in der Musikpädagogik seit Generationen unreflektiert weitergegeben. Zwar hat das Kapitel 4 ausführlich dargestellt, wie durchdrungen der menschliche Körper von Rhythmen verschiedenster Art ist; gleichzeitig wurde dort deutlich, dass der Schrittrhythmus nur ein Rhythmus unter vielen anderen ist. Unter entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten finden vor dem Gehen zahlreiche andere Bewegungsformen statt.

Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Rhythmus nimmt ihren Anfang in der passiven Erfahrung zeitlicher Strukturierung (vgl. Abschnitt 8.2.1). Neben auditiven Eindrücken spielen auch körpernahe Sinnesreize wie Druck oder Berührung eine wichtige Rolle. Vielleicht hätte Robert es genossen, wenn seine Lehrerin ihm Rhythmen auf die Hände getupft oder auf den Rücken getrommelt hätte. Womöglich wäre Robert auch in der Lage gewesen, einen gleichmäßigen Knieschlag zu einem Sprechvers auszuführen. Denkbar wäre auch, dass Robert das Angebot frei oder metrisch gebunden auf einer Trommel zu spielen gerne angenommen hätte. Es ist ein Grundprinzip motorischer Entwicklung, dass die oberen Extremitäten früher ausgereift für differenzierte Aktionen bereit stehen als die unteren Extremitäten (vgl. die Abschnitte 4.48.2.2). Das in der Musikpädagogik immer wieder propagierte Gehen ist unter diesem Aspekt also nicht der Königsweg. Natürlich ist Fortbewegung rhythmisch – allerdings sind Bewegungen mit Armen und Händen früher ausgereift und darum leichter exakt zu gestalten, doch am ehesten gelingt rhythmisch genaues Sprechen. Ein anderer Grundsatz betrifft die Tatsache, dass sich die großen, der Körperlängsachse nahen Muskeln eher kontrollieren lassen als die peripher gelegenen feinen. Eine exakte Bewegung der Finger – wie es beispielsweise das Klavierspiel verlangt – muss erst heranreifen. Dass vermeintlich rhythmische Probleme in Wirklichkeit motorische Defizite sein können, ist mehrfach erwähnt worden.


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