- 124 -Lehmann, Silke: Bewegung und Sprache als Wege zum musikalischen Rhythmus 
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Dauer werden hier nicht beachtet. M. 2 bildet die Anzahl und Dauer der Ereignisse ab, in M. 3 findet die Relation der kurzen und langen Ereignisse Beachtung: zwei kurze Klänge füllen die Zeit eines langen Klangs. Hier zeigt sich die Verständnisebene eines geschlossenen, proportionalen Zeichensystems.

Allerdings neigen nicht nur Kinder dazu, Rhythmen figural aufzufassen. Auch ungeübten Erwachsenen ist die gestalthafte, motivische Sichtweise plausibel: »This sense of gestural-grouping, of ›going together‹ seems most ›right‹ not only to the majority of eight-nine year-old children but […] to the majority of musically untrained adults as well.« (Bamberger 1980, S. 176f.). Übung im Umgang mit dem traditionellen Notensystem führt dagegen bei entsprechenden Versuchspersonen dazu, dass diese eher metrisch notieren (vgl. auch Upitis 1987, S. 58).

Einen deutlichen Hinweis für die nicht zu unterschätzende Bedeutung der figuralen Komponente der musikalischen Wahrnehmung ist der Befund, dass Versuchspersonen, die zu erklingender Musik den Taktanfang durch Tapping markieren sollen, dies nur zu einem geringen Teil wie erwartet taten. Nur 40 % trafen die erste Zählzeit, 45 % markierten die Zählzeit zwei (im Zweiviertel-Takt), 10 % markierten jede Zählzeit. Zu einem Dreiviertel-Takt wurde das Tapping von 80 % der Versuchteilnehmenden so ausgeführt, als handele es sich um einen Zweier-Takt (vgl. Fraisse 1982, S. 173). Die Hörenden werden als mit klassischer Musik vertraute Personen beschrieben, die das betreffende Stück nicht kannten. Karin Beck schildert ähnliche Ergebnisse und formuliert: »Häufig ist die Wahrnehmung von musikalischen Gestalten unabhängig von der Takteinteilung« (Beck 1993, S. 463). Selbst musikalisch versierte Personen nehmen also eher gestalthaft als rechnerisch-analytisch wahr.

Falsch, anders oder womöglich besonders wertvoll?

Sowohl die figurale als auch die formal-metrische Ebene sind für Erleben und Ausführen von Musik bedeutsam, sie stellen nur eine unterschiedliche Ausrichtung des Fokus dar: »The two kinds of drawings might be imagined as different ways of mapping the same ›trip‹, each traveler attending to different features along the way.« (Bamberger 1980, S. 181). Auch Upitis ist der Meinung, dass sich figurale und metrische Wahrnehmung parallel entwickeln und findet dafür das Bild des ›Tandems‹ (Upitis 1987, S. 74). Wenn Herbert Bruhn Bezug auf das Beispiel F. 2 (in traditionelle Notenschrift übersetzt nimmt und formuliert: »Auf der figuralen Ebene wird zwar die Länge der Noten dargestellt. Es wird aber ein typischer Fehler registriert: Zwischen den Phraseneinheiten wird der letzte Schlag als kurz gezeichnet, obwohl die Zeitdauer bis zum nächsten Schlag lang ist.« (Bruhn 2000, S. 237, Hervorhebung S. L.), ist der Interpretation im Sinne von ›fehlerhaft‹ entschieden entgegen zu treten. Die Kinder nehmen den Rhythmus durchaus korrekt wahr, denn wie Bruhn selber zugeben muss, sprechen die Kinder auf Befragen »von einer Lücke zwischen den Tönen, die den Ton aber nicht lang machen würde« (ebd.). Wie oben geschildert beachten – bzw. verschriftlichen – die Kinder die Aufeinanderfolge der Töne, dem System der rechnerischen Stimmigkeit wird keinerlei Bedeutung zugemessen.


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