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Rhythmus

Umgangssprachlich beschreibt der Begriff Rhythmus eine wiederkehrende zeitliche Gestaltung, beispielsweise den Tag-Nacht-Rhythmus, den Ampel-Rhythmus oder ganz allgemein den Lebens-Rhythmus. Aber auch in der Alltagssprache meint die Bezeichnung ›rhythmisch‹ periodisch wiederkehrend im Sinne (ungefährer) Gleichabständigkeit. Im musikalischen Kontext ist mit einem Rhythmus eine Folge von Dauern gemeint, die oft (aber nicht immer: vgl. Abschnitt 3.2.8) Bezug zu einem zugrunde liegenden isochronen Grundschlag haben. Häufig ist das proportionale Verhältnis der Dauern zueinander innerhalb eines Rhythmus verbindlich geregelt.

Deutlich wird in den Annäherungen an die Begriffe, dass die unterschiedlichen Aspekte eng miteinander verwoben sind. So war schon in Zusammenhang mit der subjektiven Rhythmisierung (die ja ein Betonungsmuster meint und somit eigentlich ›Metrisierung‹ heißen müsste) darauf hingewiesen worden, dass sich die Parameter Dauer und Akzentuierung gegenseitig beeinflussen. Darüber hinaus ist der Gedanke von Isochronie auch für Rhythmen bedeutsam, umgekehrt werden umgangssprachlich Metren durchaus auch als Rhythmen bezeichnet. Auf jeden Fall sind Rhythmen aber auch durch die Kombination von Dauern gekennzeichnet. Rammsayers Differenzierung zwischen Dauer (= Zeit) und Musterbildung/Isochronie (= Rhythmus) erscheint nach wie vor artifiziell. Denn auch die Annäherung an die Begrifflichkeiten stärkt einmal mehr den Eindruck, die bestimmenden Kennzeichen von Zeit und Rhythmus verschwimmen ineinander. Ein Aspekt, der bei Rammsayer kurz anklingt, muss allerdings – wenn auch aus einer anderen Perspektive als der der experimentellen Psychologie – näher beleuchtet werden: die gedankliche Bündelung zu Mustern bzw. Gestalten. Daher soll sich der nächste Abschnitt mit der Wahrnehmung von Rhythmen als Gestalten auseinandersetzen.

Rhythmus als ›Gestalt‹

Pöppel nennt vier hierarchische, evolutionsbiologisch aufeinander aufbauende Dimensionen des Zeiterlebens: Gleichzeitigkeit, Folge, Jetzt und Dauer (vgl. Abschnitt 6.1.1). Dabei wird das Jetzt, das Erleben der Gegenwart, nicht nur durch die zeitliche Eingrenzung im Bereich weniger Sekunden bestimmt, sondern auch durch einen Akt des Bewusstseins. Dabei werden die nüchternen akustischen Einzelereignisse zueinander in Beziehung gesetzt. Der Mensch verknüpft in einem gedanklichen Prozess zeitlich aufeinander folgende Einheiten zu Mustern, Motiven bzw. Ganzheiten:

Was wir jeweils als ›gegenwärtig‹ erleben, ist nicht ein ausdehnungsloser Punkt auf der Zeit-Achse der klassischen Physik, sondern es sind zu Gestalten integrierte Ereignisse mit Bedeutung. (Pöppel 1998, S. 372, Kursivdruck im Original).

Der Begriff der Gestalt hat die Psychologie seit mehr als hundert Jahren beschäftigt. Im Jahre 1890 veröffentlichte Christian von Ehrenfels sein grundlegendes Werk


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