- 31 -Lehmann, Silke: Bewegung und Sprache als Wege zum musikalischen Rhythmus 
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Andrerseits muß man vom psychologischen Standpunkt die Frage aufwerfen, ob es wirklich Melodiestile gibt, in die nicht der leiseste Rest von Schrittbetonungen eindringt, die also jedes Einschlags von körperlichem Bewegungsgefühl entbehren; die Behauptung, daß dies unmöglich sei, daß es rein energetische Ablaufsformen auch hinsichtlich der Betonungen nicht gebe, würde unweigerlich auf den Standpunkt zurückleiten, daß die musikalische Energie nur eine Nachempfindung von körperlicher Bewegung, somit von dieser abhängig sei. Welch vergröberte Musikauffassung das bedeutete, bedarf hier keiner Auseinandersetzung mehr (ebd., S. 310).

Selbst wenn auch Kurths Theorie nicht von Werturteilen frei ist, findet sich in seinem Ansatz doch eine Berücksichtigung körperlicher wie seelischer Vorgänge.

Die Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist einerseits geprägt durch eine beginnende Berücksichtigung wahrnehmungspsychologischer Erkenntnisse, in die andererseits aber häufig (aus heutiger Sicht) kurios anmutende Theorien und Wertungen einfließen.

3.2.8.  Das weitere 20. Jahrhundert

Im Laufe des 20. Jahrhunderts verliert der Terminus Rhythmus sein Verständnis als »Prinzip […], das die dem Sinn unmittelbar faßlichen mus. Zeiträume und Bewegungsvorgänge ordentlich gliedert, so daß sich die Wahrnehmung seiner Manifestationen mit dem Gefühl der Lust verbindet« (Seidel 1993, S. 34). Der Begriff meint nun die zeitliche Organisation von Musik überhaupt; Regelmäßigkeit, Ordnung und Symmetrie werden wenn nicht unbedingt komplett abgelöst, so doch ergänzt von Freiheit, Irregularität, (mathematischem) Konstruktivismus oder auch dem Zufall wie in der Aleatorik. Eine musikwissenschaftlich orientierte Forschung gilt der Erfassung sehr spezieller Ausprägungen des Rhythmus, beispielsweise dem Rhythmus verschiedener Epochen – dem Rhythmus bei Bach oder der Rhythmik der Notre-Dame-Epoche – oder auch dem Rhythmus eines Komponisten unter verschiedenen Fokussierungen, so benennt Carl Dahlhaus in Bezug auf eine Komposition Strawinskys die Bereiche »melismatische Rhythmik, Distanzrhythmik, zählende Rhythmik, Schlagzeitrhythmik und Taktrhythmik« (Seidel 1993, S. 36).

Letztlich kommt es eher zur Wiederholung schon in ähnlicher Form dagewesener Formen von Rhythmen (und theoretischen Überlegungen dazu) als zu wirklichen Neuschöpfungen. Intellektuell orientierte Ansätze wie im Serialismus oder Konstruktivismus hat es schon im Mittelalter gegeben (vgl. Abschnitt 3.2.2), auch das Belieben des Interpreten in der zeitlichen Ausführung hat es im Minnesang oder Gregorianischen Choral schon gegeben. Allein die technische Entwicklung bietet schier unendliche Möglichkeiten, Zeitgestalten zu generieren – allerdings sind deren Verarbeitung durch das menschliche Sinnessystem Grenzen gesetzt.

3.3.  Schlussbetrachtung

Auch – oder gerade – nach der Sichtung der Erscheinungsweisen von zeitlichen Phänomenen in der Musik und ihrer Benennung wird es keineswegs leichter, allgemeingültige Formeln für die Begriffe Rhythmus, Metrum und Takt zu finden. Im


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