- 110 -Lehmann, Silke: Bewegung und Sprache als Wege zum musikalischen Rhythmus 
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Bei leeren Intervallen ist die relevante Zeitinformation zwischen den Markierungsreizen zu Beginn und am Ende des Intervalls enthalten. Eine solche Stimulus-Charakteristik weist ganz offensichtlich eine sehr viel größere strukturelle Ähnlichkeit zu einem Rhythmus auf, der seinerseits durch Beat-to-Beat-Intervalle gekennzeichnet ist, als gefüllte Intervalle. (ebd., S. 95f.).

Für den Zusammenhang mit dem Bereich der Musik stellt sich die Frage, ob die vorgenommene Trennung von Dauern einerseits und Isochronie andererseits nicht zu artifiziell ist, um zu aussagekräftigen Versuchsergebnissen zu gelangen. In rhythmisch-metrisch gebundener Musik entspinnt sich ein Geflecht von Dauern, die aber immer Bezug auf ein zugrunde liegendes, isochrones Gerüst nehmen. In einem Vorgriff auf den Abschnitt 6.3 sei hier schon erwähnt, dass auch für den Entwicklungspsychologen Jean Piaget die Zeit durch Dauern und Punkte charakterisiert ist. In diesem Zusammenhang drängt sich der Gedanke an den musikalischen Bereich der Artikulation auf: in der Musikausübung besteht ein wichtiges Gestaltungsmittel darin, die tatsächliche Tonlänge zu variieren. Selbstverständlich ändert sich dadurch nicht der eigentliche Notenwert. Wo gekürzt wird füllen ›klang-leere‹ Dauern die dem Notenwert zugedachte Zeit; wird dicht artikuliert, endet der Ton durch das Erklingen des nächsten Notenwertes. Auch die Art des Instrumentes hat Einfluss auf die Klang-Struktur: mit Zupfinstrumenten ist es generell nicht möglich, Einzeltöne lang auszuhalten, für Melodie oder Streichinstrumente ist dies hingegen kein Problem. Trotz dieser unterschiedlichen Voraussetzungen darf aber nicht der Schluss gezogen werden, Artikulation oder Klangerzeugung verändere einen Rhythmus. Was sich ändert ist allein die klangliche Interpretation.

Am Ende fasst Rammsayer seine Versuchsergebnisse so zusammen, dass ein Zusammenhang zwischen Zeitwahrnehmung und Rhythmuswahrnehmung denkbar sei und bedeuten könne dass beide Ebenen auf einem »subkortikalen, perzeptiv-sensorischen Zeitmechanismus basieren« (ebd., S. 102). Dieser Annahme bliebe auch vom holistischen Standpunkt aus nichts entgegenzusetzen.

Die experimentelle Psychologie vermutet einen gemeinsamen biologischen Mechanismus für die Phänomene Zeit und Rhythmus.
Von Mustern, Dauern, Rhythmen und Metren: eine begriffliche Suche

Die von Rammsayer vorgenommene Unterscheidung zwischen Dauer (= Zeit) und Gleichabständigkeit sowie Musterbildung (= Rhythmus) führt einmal mehr hinein in das Durcheinander zeitlich bzw. rhythmisch bedeutsamer Erscheinungen (vgl. auch Kapitel 3). Allein die weiter oben beschriebene Benennung der unterschiedlichen Größenordnungen in Zeitwahrnehmung (unterhalb 500 msec), Zeitschätzung (wenige Sekunden) und Zeiterleben (unbegrenzt) verschwimmen in ihrer Klarheit dadurch, dass alle drei Begriffe Bestandteil der Alltagssprache sind. Dies gilt auch für die Begriffe Rhythmus oder Metrum. Auch wenn die Komplexität der Thematik vollständig verbindliche Definitionen ausschließt (vgl. auch in Abschnitt 3.3 die Schlussbetrachtung zu den Definitionsversuchen), soll hier doch der Versuch einer Klärung erfolgen.


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