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Der Physiker Werner Heisenberg (1901–1976) hat am Anfang des 20. Jahrhunderts das berühmte Unbestimmtheitsprinzip erläutert, welches (sehr grob ausgedrückt) besagt, dass auf quantischer Ebene die Messung von Position und Geschwindigkeit eine intrinsische Ungenauigkeit mit sich bringt, welche wiederum zur Folge hat, dass jegliche Präzisierung der Position eines Körpers einen Verlust an Information über seine Geschwindigkeit mit sich bringt, und umgekehrt. Bei der Betrachtung einer großen Anzahl ähnlicher Körper in einer identischen Situation kann zwar eine statistische Verteilung bzw. ein ›Wahrscheinlichkeitswert‹ für diese beiden Parameter festgelegt werden, aber was in jedem einzelnen Fall passiert, kann weder vorhergesehen, noch gemessen werden. Diese Ungenauigkeit ist zwar auf größerer Skala unbedeutend (es ist ja möglich, mit ausreichender Genauigkeit die Position und die Geschwindigkeit eines Autos messen . . . ), aber in einem sehr kleinem Maßstab existiert sie dennoch.

Im Hinblick auf die hier erzielten Resultate ist es nicht auszuschließen, dass in der Musik – und besonders in der Interpretation – ein dem heisenbergschen ähnliches Prinzip existieren könnte; eine Analogie liegt jedenfalls nah. Wie man im Alltag mit ausreichender Präzision gleichzeitig die Position und die Geschwindigkeit eines Autos festlegen kann, sind auch im großen Maßstab die Parameter der Musik (z. B. Orchestrierung, formale Einteilung usw.) meistens relativ einfach zu definieren. Aber im kleineren Maßstab werden die Beziehungen zwischen den einzelnen Parametern komplexer bzw. undeutlicher. Man denke hier z. B. an das auf S. 91 erwähnte Verhältnis zwischen Melodik und Register (Abbildung 14.3): Die großen Sprünge im Bass führen zu einer deutlichen Verringerung des Gefühls einer melodischen Linie – aber bis zu welchem Punkt? Mehrere Interpretationen sind wohl zulässig, aber wie in der Quantenphysik die Entscheidung, mehr über die Geschwindigkeit eines Körpers herausfinden zu wollen, seine Position undeutlicher macht, so wird hier mit jeder stärkeren Betonung des Registerwechsels die melodische Kontinuität nach und nach in den Hintergrund gestellt: Beide ›Wahrheiten‹ schließen sich gegenseitig aus.



Abbildung 14.3: Etüde Nr. 11, T. 79–83, linke Hand. Die Gegenüberstellung von Registerwechseln und melodischer Kontinuität ist für verschiedene Interpretationsmöglichkeiten der Stimmführung verantwortlich.



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