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- 7 - aus: Batya Gur, Das Lied der Könige


Stelle. Man hätte es überhaupt nicht erwartet...«

»Einen Moment«, sagte Michael und drehte sich unbehaglich um. »Nach dem, was ich heute von Frau Sackheim gehört habe, wenn ich es richtig verstanden habe«, entschuldigte er sich, »gab es das im Barock nicht. Sie hat mir, glaube ich, gesagt, man hat keinen Unterschied gemacht zwischen piano und forte. Wie kann das Stück dann von Vivaldi sein?«

Isi Maschiach kratzte sich an der Stirn. Seine Atemzüge waren ruhiger. »Es zeigt, daß das ein Zusatz ist, den jemand später hinzugefügt hat«, sagte er mit einem Zweifeln. »Denn Vivaldi hat wirklich keine Dynamik-Anweisungen vorgegeben. Kein crescendo oder forte oder piano; wenn Vivaldi eine bestimmte Dynamik wollte, hat er es ihnen gesagt.«

»Wem hat er es gesagt?«

»Seinen Musikern, bei der Probe oder bei der Aufführung.«

»Was bedeutet das?« fragte Balilati ungeduldig und setzte sich in den Chefsessel.

»Das heißt, daß vielleicht jemand das Stück für Vivaldi kopiert und präpariert hat. Oder Vivaldi selbst hat etwas hinzugefügt. Hier«, sagte er und zeigte auf verwischte Worte am unteren Teil eines der Bögen. Er schüttelte den Kopf mit begeisterter Fassungslosigkeit. »Sehen Sie«, erklärte er geduldig. »Das ist ein Requiem, und es ist klar, daß Vivaldi es nicht unterteilt hat wie Mozart, wo die einzelnen Teile arios gestaltet sind, sondern er hat die Teile verbunden und mußte ziemlich kurz sein, eine >Missa brevis<. Und ich wollte sehen, wie Vivaldi das >Lacrimosa< komponiert hat, und was sehe ich?« sagte er und wedelte mit der Hand über den Bogen, »ich sehe noch einmal, was für ein wunderbarer Opernkomponist er war. Das ist zwar bekannt, sowohl von seiner Oper >Armida< als auch von anderen vergessenen Opern. Und hier beweist er es auf eine sehr aufregende Weise. Denn sehen Sie«, sagte er und beugte sich tief über die Blätter, »das >Lacrimosa< ist ein Duett für Sopran und Mezzosopran, das im Sekundkanon geschrieben ist. Das bedeutet«, er wandte sich an Balilati, der ihn mit verschlossener Miene ansah, »daß die zweite Stimme einen Ton über dem Ton der ersten Stimme einsetzt. Es ist nämlich bekannt, daß die Italiener solche Kanons liebten. Es gibt auch einen im >Stabat mater< von Pergolesi. Sie haben es gehört, wissen Sie es noch?« erinnerte er Michael mit einem Ton der Vertrautheit, die Michaels Unbehagen gegenüber Balilati verstärkte.

»Die Italiener sahen in solch einem Sekundkanon etwas, das große Trauer enthielt. Bei diesem Stück, sehen Sie«, er zeigte auf die verwischten Worte am Rand des Blattes und hielt die Lupe darüber, »gibt es auch ein Solo für Oboe d'amore. Sehen Sie? Das Wort >Oboe< wurde von diesem Tintenklecks überdeckt. Und das ist auch ganz typisch, denn durch die Feder, die man bei jeder Seite, die man zu schreiben begann, eintauchte, gibt es diese Tropfen. Aber das Wort >obligato< ist geblieben, das heißt, daß man dieses Instrument nicht weglassen darf. Das scheint mir ein Zusatz von Vivaldi auf der Handschrift des Kopisten. Und das ist interessant, aber nicht


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