- 5 - Donna Leon: Venezianisches Finale
»Ich weiß es nicht. Keiner der Leute, mit denen ich gesprochen habe, wollte viel über die Vorstellung sagen, und das wenige, was sie gesagt haben, klang sehr zurückhaltend. Ich saß in einer der vorderen Logen links, konnte ihn also sehr gut sehen. Wahrscheinlich haben die meisten Leute auf die Sänger geschaut. Als dann die Ansage kam, er könne nicht weiterdirigieren, dachte ich, er hätte vielleicht einen Herzanfall gehabt. Aber nicht, daß er umgebracht worden sei.« »Und wie haben diese anderen Leute geurteilt?« »Wie gesagt, sie waren schon fast übervorsichtig, wollten nichts gegen ihn sagen, jetzt wo er tot ist. Aber einige Leute hier haben weitgehend dasselbe gesagt, nämlich daß die Aufführung enttäuschend war. Weiter nichts.« »Ich habe Ihren Artikel über seine Karriere gelesen, Professor. Sie haben sich sehr positiv über ihn geäußert.« »Er war einer der großen Musiker dieses Jahrhunderts. Ein Genie.« »Sie haben diese letzte Vorstellung in Ihrem Artikel nicht erwähnt.« »Man verurteilt einen Künstler nicht einer schlechten Vorstellung wegen, Commissario, besonders dann nicht, wenn seine gesamte Laufbahn sonst so glanzvoll war.« »Ja, ich weiß, für eine schlechte Vorstellung nicht, und nicht für eine schlechte Tat.« »So ist es«, pflichtete der Professor bei und wandte seine Aufmerksamkeit zwei jungen Frauen zu, die gerade hereinkamen, jede mit einer dicken Partitur unter dem Arm. »Aber wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, Commissario, meine Studenten kommen, und ich muß gleich mit der Vorlesung anfangen.« »Natürlich, Professor«, sagte Brunetti, stand auf und streckte die Hand aus. »Vielen Dank für Ihre Zeit und Ihre Hilfe.« -------------------
aus: Dona Leon, Venezianisches Finale, S. 174-183 Aus dem Amerikanischen von Monika Elwenspoek Copyright © 1992 Diogenes Verlag AG Zürich Textauszug mit freundlicher Genehmigung der Diogenes Verlag AG Zürich
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