- 3 - Hera Lind: Ein Mann für jede Tonart
Die Proben dauerten täglich vier Stunden, weil das Stück so anspruchsvoll war, und danach war ich zu Hause noch voll damit beschäftigt, mein Taschenkammsolo zu üben und meine Stimmbänder wieder zu sortieren. Will sagen, ich hatte nicht viel Zeit für Georg und auch sonst ganz wenig Lust auf Zerstreuung. Wahrscheinlich vereinsamt man seelisch völlig, wenn man längere Zeit moderne Musik macht. Keiner versteht einen mehr. Klaus hatte seit damals nichts mehr von sich hören lassen. Ich dachte manchmal an ihn, weil ich überlegte, einen Psychiater wegen beruflicher Identitätskrise aufzusuchen. Ich war mir aber nicht sicher, ob die Krankenkasse oder die Beihilfe das bezahlen würde, und so ließ ich es erst mal. Ein paarmal traf ich Helmut, den Meteorologen, und besichtigte Godfried, Eberhard, Annetraut und Walburga, die Kröten in seinem Garten. Ich besichtigte bei der Gelegenheit auch immer die nette schwerhörige Mutter, die sich nie an mich erinnerte und sich immer neu erklären ließ: »Das ist die Sängerin, Mama. Die singt in der Singakademie!« »Schlager oder Operette?« fragte jedesmal die alte Dame, und Helmut lachte und sagte zu mir, daß es keinen Zweck hatte, ihr das zu erklären. Meine Treffen mit Helmut hatte den Vorteil, daß er anscheinend keinerlei Rittersmann- oder Knapp-Absichten hatte und mir einfach nur amüsiert zuhörte, wenn ich erzählte. Er konnte den ganzen Abend mit seinen dünnen langen Fingern ein einziges Kölschglas halten und ab und zu daran nippen. Er war kein Maßloser: Er aß nicht viel, trank nicht viel, sagte nicht viel, unternahm nicht viel und erlebte anscheinend nicht viel. Sein Leben war seine alte Mutter mit dem Hörgerät und seine vier Kröten. Ich konnte ihn gut leiden, den Helmut, besonders, weil er immer gerade dann Lust und Zeit hatte, mich zu treffen, wenn ich anrief, sich aber ansonsten bedeckt hielt. Was mich selbst sehr wunderte, war meine absolute Appetitlosigkeit, was Quark anbelangte. Ich dachte, daß mein abnormes Eßverhalten sicherlich mit der modernen Musik zu tun hatte. Bei solch einer schwachsinnigen Komposition konnte einem ja auch der gesunde Appetit vergehen.
© 1989 Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main
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