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- 11 - aus: Batya Gur, Das Lied der Könige


Er hat mir nichts gesagt!« rief er wieder.

»Erklären Sie mir Vivaldis besonderen Stil«, bat Michael. »In knappen Worten.«

»Jetzt?«

Michael nickte, und Isi Maschiach lehnte sich in einer deutlichen Pose der Erschöpfung zurück. »Er hatte ein besonderes Faible für das, was man im Barock >Bizarrerie< nannte«, sagte er, während er zum gegenüberliegenden Fenster sah, aus dem seine Augen die Dunkelheit aufnahmen. »Man hat es sogar in den >Jahreszeiten<, die an Bizarrerie alles übertreffen und voll von überraschenden Effekten sind. Er war äußerst originell, und hier, im >Dies irae<«, er klopfte zaghaft auf den Tisch, »wimmelt es nur so davon«.

»Und das ist alles? Das genügt?«

»Eine andere Sache«, fuhr Isi Maschiach nach einer langen Pause fort, »ist, daß hier in den Chorteilen seine Abstraktion deutlich wird. Es stimmt, wenn man normalerweise von einem lyrischen Barockmelodiker spricht, meint man Corelli, aber auch Vivaldi hat es beherrscht. Und was das besondere an ihm ist, ist, daß er in der Lage war, verschiedene Abschnitte ohne Melodie zu komponieren, nur mit wiederholten Motiven in verschiedenen harmonischen Umkehrungen, wie im Concerto >La notte<.«

»Und das sind genug Beweise für seinen Stil? Nach solchen Kriterien würden Musikwissenschaftler sich richten?«

Isi Maschiach seufzte. »Selbst wenn es nicht Vivaldi selbst war, auch dann ist es Millionen wert«, sagte er gleichgültig. »Aber ich bin mir sicher, es ist sehr überzeugend, daß das Vivaldi ist. Sie würden es bestätigen.«

»Und so etwas findet man plötzlich in einer alten Orgel in Delft?«

»Die Messe von Berlioz fand man in Belgien im oberen Regal des Organisten in der Kirche. Ein Bündel Papiere, mit einer Schnur umwickelt, mit Staub bedeckt, achtlos abgelegt«, erzählte Isi Maschiach. »Solche Dinge hängen mit Erbschaftsgeschichten zusammen und ähnlichen Komplikationen. Wissen Sie, Musiker bewahren die Noten an den unmöglichsten Orten auf. Warum nicht in einer alten Orgel in Delft.«

»Ich weiß nicht, ob Sie es verstanden haben«, sagte Balilati langsam, »aber wenn die Noten Gabriel van Gelden gehörten, sind Sie der Erbe, denn er hat alles Ihnen vererbt.«

Isi Maschiachs Gesicht wurde grün. Mit starren Augen sah er den Packen Hefte an und beeilte sich, die Hände vom Tisch zu ziehen. »Er hat mir nichts davon gesagt«, jammerte er erneut und warf den Kopf hin und her. »Nicht ein Wort. Er wollte nie und nimmer, daß sie mir gehören. Sie gehören nicht mir, wenn es nicht offiziell vermerkt ist. Vielleicht verdiene ich es auch wirklich nicht, denn ich habe ihm nicht vertraut, und ich habe ihn beschuldigt...« Seine Lippen schmollten beleidigt. »Und wenn es nicht seine Absicht war, daß die Noten mir gehören, will ich sie nicht haben.«


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