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- 5 - Vladimir Nabokov: MUSIK


Er setzte sich an einen Tisch und tat, als läse er eine Zeitung. Sie ging hinaus in den Garten, kam aber nach einigen Minuten zurück. «Ich kann nicht mehr», sagte sie, «ich muß dir alles sagen.» Und dann erzählte sie, mit einem Ausdruck der Verwunderung, als spräche sie über das, was eine andere getan hatte und was sie selber gleichsam bestürzte, ja als bäte sie ihn, ihr Erstaunen zu teilen — erzählte sie alles. Es handelte sich um einen großen, stattlich gebauten, sehr beherrschten Kerl mit bescheidenen Umgangsformen, der manchmal zum Kartenspielen kam und mit manchen Details von der Energie sprach, die man aus den Gezeiten gewinnen könne. Zuerst in einem Winkel des Parks, dann bei ihm zu Hause...

Sonderbar ausgelöschte Erinnerung: Bis zum Abend ging ich an der Küste entlang. Ach, wie lange diese Musik braucht, bis sie ihre Küste erreicht... Als ich diesen Mann auf dem Kai ohrfeigte, sagte er: «Das wird Sie teuer zu stehen kommen!» Dann hob er seine Mütze auf und machte sich aus dem Staub. Dumm, was für ein Gedanke mir zunächst kam — diese Frau umzubringen. 0 nein, du sollst leben! Du sollst leben, wie du in eben diesem Augenblick lebst; bleib sitzen, wie du jetzt sitzt, für alle Zeiten; komm, sieh mich an, ich bitte dich — ein einziger Blick — und ich verzeihe dir alles. Denk doch daran, eines Tages sterben wir und wissen alles, und alles wird vergeben sein; warum es also auf später verschieben; sieh mich an, sieh mich an, wende doch deinen Blick zu mir... Meine Augen, meine geliebten Augen. Nein. Das ist zu Ende.

Groß und robust gingen die letzten Töne, kamen wieder... nur für ein einziges Mal noch blieb Atem, und dennoch, nach diesem äußersten Akkord, der alles verschenkt zu haben schien, was es an Musik auf der Welt gibt, zielte der Pianist mit dem Zeigefinger und schlug mit der Genauigkeit einer springenden Katze einen kleinen, goldenen, einzelnen und klaren Ton an.

Die Mauern der Musik stürzten; man applaudierte ihrem Fall.

Wolff sagte: «Es ist lange her, daß ich das gespielt habe.»

Wolffs Frau sagte: «Sie müssen wissen, mein Mann hat das seit langem nicht gespielt.»

Der Arzt ging keuchend auf den Pianisten zu, und sein dicker Wanst erdrückte ihn fast:

«Großartig», rief er. «Ich finde, das ist das Beste, was er je komponiert hat. Vielleicht modernisieren Sie die Harmonien ein wenig, Herr Wolff; ich weiß nicht, ob ich mich verständlich mache, aber sehen Sie..

Viktor Iwanowitsch blickte zur Tür hinüber. Dort verabschiedete sich eine kleine Frau mit schwarzem Haar und einem verstörten Lächeln von der Gastgeberin. Diese rief völlig überrascht: «Aber nicht doch, bleiben Sie, alle bleiben, wir essen etwas, und danach gibt es ein Trio.» Aber die andere bewegte sich mit ihrem verstörten Lächeln auf die Tür zu; und da wurde es Viktor Iwanowitsch klar, daß diese Musik, die ihm anfangs


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