welche Motive des
Originals sich in der Variation wiederfinden und wie diese sich aufeinander
beziehen.
Gerade diese motivische Struktur, also das Erfassen von Motiven als musikalische
Sinneinheiten und deren Beziehungen zueinander, ist wesentlich für das Verstehen von
Musik. So war bereits Hugo Riemann der Auffassung, daß
»von der Erkennung der vom Komponisten gemeinten Motivbegrenzungen in
erster Linie das wirkliche Verstehen einer Melodie abhängt.«2
Während sich die Theorien der Melodik weitgehend auf Tonhöhen konzentrieren, ist die
zeitliche Anordnung und damit der Rhythmus für viele musikalische Phänomene
entscheidend. So entstehen durch das bloße Spiel von Rhythmen auf einer Trommel
bereits musikalische Strukturen mit rhythmischen Motiven. Für Cooper und Meyer
stellt die motivische Struktur sogar das wesentliche Element der Rhythmik
dar:
»To experience rhythm is to group separate sounds into structured patterns.«3
Obwohl die zentrale Bedeutung der Rhythmik und Motivik für die Musik allgemein
anerkannt ist, haben sich dennoch nur wenige Theoretiker intensiver mit der
Rhythmik im allgemeinen und der rhythmischen Motivstruktur im besonderen
beschäftigt. Eine kohärente allgemein akzeptierte Theorie wurde bis heute nicht
entwickelt.
Der eklatante Mangel an musiktheoretischen Modellen und Methoden zur Rhythmik
und besonders der rhythmischen Motivik hat möglicherweise seine Ursache darin, daß
das Erkennen und Verstehen von Rhythmen weitgehend unbewußt stattfindet. Im
Gegensatz zur Harmonik, die als schwieriges Gebiet der musikalischen Theorie gilt, wird
die Rhythmik als eine handwerkliche Disziplin angesehen. Ihre Behandlung geht in den
einführenden Werken zur Musiktheorie kaum über die Darstellung von Notenwerten und
Taktarten hinaus. So nimmt beispielsweise in Hermann Grabners ›Allgemeiner
Musiklehre‹4
der Abschnitt »Tempo, Metrik, Rhythmik« gerade 15 von 373 Seiten ein. Diese
Beschränkung ist für die Ausbildung ausführender Musiker auch sinnvoll, da die
Rhythmik den meisten Musikern keine intellektuellen sondern praktische Probleme
bereitet. Möglicherweise sind rhythmische Theorien auch deshalb auf wenig Akzeptanz
gestoßen, weil ihre Entwicklung nur geringe Erfolge zeigte. Während die Harmonielehre
im neunzehnten Jahrhundert vor allem von Hugo Riemann zu einem zumindest teilweise
konsistenten praktisch anwendbaren System ausgebaut wurde, gelang dies bei der
Rhythmik kaum.
In der Musikpsychologie war und ist das Interesse an Phänomenen der Rhythmik
größer als in der Musiktheorie. Schon zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts
begannen Bolton und Wundt die Untersuchung grundlegender Mechanismen der
Wahrnehmung, die nach wie vor Gegenstand musikpsychologischer Forschung
sind.5
Während in der Musiktheorie Modelle vorherrschen, die dem Musiker, Komponisten