- 70 -Sydow, Kurt: Musikpädagogische Beiträge aus drei Jahrzehnten 
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nicht so wichtig. Ich habe ja lange genug in der Nachbarschaft der Dinge gelebt, da wo sie zu Hause sind".

Die Nüchternheit und Sachlichkeit seiner Antworten hat manche Studenten der Hochschule enttäuscht. Noch immer und immer wieder spukt in ihren Gehirnen der romantische Künstlermythos, eine Art Heldenverehrung, und die Erwartung auf ein bedeutungsvolles Pathos. Sie verbinden mit der Musik und erhoffen von ihr und ihren Meistern - ihnen selbst natürlich unbewußt - alle schönen Täuschungen. Musik aber sucht nach dem wahren Ausdruck ihrer Zeit. Hören wir nun Hindemith selber in seiner Theorie:

1948 - 25 Jahre nach der Erstveröffentlichung - liegt das "Marienleben" nach Gedichten von Rainer Maria Rilke in der Zweitfassung vor. 7 "Es ist das Resultat fortgesetzten Ausprobierens und Verbesserns". Sein Bemühen geht dabei auf geistige Vertiefung. Es geht ihm nicht "um neue Kunst, sondern um Kunst", denn so sagt er: "Das uralte Streben nach geistiger Vertiefung ist noch immer so neu wie je". Er erläutert die bewußte Disposition, die Gesamtlage des Werkes, die Kräfteverteilung, die Berechnung der Höhen- und Tiefpunkte, speziell die dynamischen und expressiven Höhepunkte. Seine Sorgfalt zielt auf die "klangliche und ausdrucksmäßige Sonderstellung der Gesangstimme". Er nimmt Rücksicht auf die "Möglichkeiten und Erfordernisse der Singstimme". Sicherlich, er meidet keine technischen Schwierigkeiten, denn er bejaht "die Anspannung bis zum höchsten Grad, aber bei vollem Verständnis des klingenden Apparates". Die Melodiebildung unterwirft er Gesetzen. Die Maße sind Sekundgänge, Zellen, Felder, Melodiestufengänge. "Eine übergeordnete Zweistimmigkeit ist das Rückgrat und das Gerüst für die gesamte klangliche Erscheinung der Komposition". Er hält treu an dem einmal gefaßten Prinzip einer tonalen Anlage fest. Die geistige Vertiefung zeigt sich besonders in der Wiederholung beziehungsvoller Motive und Melodien, die gerade im Text nicht anklingen. Nicht das Zusammensetzspiel einer klappernden Leitmotivik wird angewandt, sondern auf geistige Zusammenhänge soll hingewiesen werden. Der Bedeutungsgehalt eingefügter musikalischer Zitate erhellt tiefere Sinnzusammenhänge. Klänge bestimmten Ausdrucksgehalts treten als Vorahnung auf und machen das Leiden im Augenblick der Freude gegenwärtig. Hindemith

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Fassung. Mainz: Schott 1948.


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