- 199 -Sydow, Kurt: Musikpädagogische Beiträge aus drei Jahrzehnten 
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Menschen werden, um "ein ganzer Mensch" zu werden, wie man es ausdrückte. Diese Auffassung konnte zum Formalismus werden. Und manche Ausprägungen in der Singbewegung oder in der Jugendmusikbewegung - namentlich nach dem politischen Umschwung - zeigen solchen Gesangsformalismus.

W.: Kann man aus Ihren Worten heraushören, daß insofern die Singbewegung der späteren Singpraxis - etwa in der Hitlerjugend - Vorschub geleistet hat?

S.: Die ursprüngliche Intention der Singbewegung war das nicht. Man könnte so etwas vermuten, wenn man heute Bücher sieht mit dem Titel "Singende Mannschaft" und ähnlichem, dann gerät eine solche Veröffentlichung in Gefahr, mehrdeutig zu werden.

Zweifellos spielen hierbei auch die bekannten Wandervogelerinnerungen - in dem benannten Falle von Götsch - eine Rolle, wo dann eine Wandergruppe, wenn sie ins Dorf zieht, sich formiert und nun singend durch das Dorf wandert. Hier wurde demonstriert, wie ein bestimmtes Liedgut zum Lebensgut geworden war. Dieser Vorgang läßt sich mit dem Auftreten einer Militärkapelle vergleichen, wenn sie unter Abspielen ihrer Marschmusik durch die Stadt zieht. Das Liedgut als Lebensvollzug anzusehen, kann in dieser Ausprägung erfolgen. In den kleinen überschaubaren Gruppen des Wandervogels oder der Jugendmusikbewegung ist das zweifellos auch ein erfülltes Leben gewesen. Nachher, in den Massenorganisationen, entstand daraus ein ganz anderer Zug.

Nebenbei muß man auch darauf hinweisen, daß sich in den verschiedenen Formationen der nationalsozialistischen Massenvereinigung Singkreise gebildet hatten, die genau so wie in der Singbewegung ein erfülltes Madrigalsingen fortgeführt haben.

W.: Im Verlauf Ihrer Veröffentlichung zeigt sich ein Standortwechsel, der sich vielleicht am einfachsten mit der Verbindung von Begriffen wie "Volksschule", "Volksgesang", "Volkslied" usw. abzeichnet, Begriffe, die in späteren Veröffentlichungen von Ihnen nicht mehr oder doch nur sehr relativiert begegnen.

S.: Zunächst spukt in Aufsätzen von mir die Tendenz der volkstümlichen Bildung. Sie war ja ein Schlagwort. Und ich höre noch den vorwurfsvollen Ton eines bekannten Pädagogen in den ersten


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