- 190 -Sydow, Kurt: Musikpädagogische Beiträge aus drei Jahrzehnten 
  Erste Seite (1) Vorherige Seite (189)Nächste Seite (191) Letzte Seite (248)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

Student, war ich zu der Überzeugung gelangt: "Verglichen mit Josquin ist Beethoven Kitsch". (Weitere 10 Jahre später entdeckte ich Schumann und Brahms für mich und legte die Reste meines jugendlichen Radikalismus wieder ab.)3

Auch mir eröffnete sich während meiner Studienzeit eine andere musikalische Welt, als ich zum ersten Mal Josquin Desprez sang, als ich in einer Musikantengilde Chorsätze von Gumpelzhaimer und Senfl, Motetten von Heinrich Schütz mitsang und erklingen hörte, ganz zu schweigen von Bach-Motetten, die der Laienkreis nach alten Schlüsseln sang. Auch mich nahm zeitweise Chormusik in ihrer geistigen Prägekraft und in der in Singkreisen entwickelten Stilbildung so gefangen, daß ich dafür klassisch-romantische Musik gerne ausklammerte. Diese Absolutheit gehört zur Singbewegung.

Die Tagung in Oberhof 1929 setzte deutliche Zeichen dafür, daß die Singbewegung dem eigentlichen Jugendleben entwachsen war. Am Spektrum einer pluralistischen Auseinandersetzung zeigte sich die Dimension des Hineinwirkens in verschiedene Lebensbereiche. Der ins Allgemeine wirkende Musikerzieher äußerte sich neben dem Kirchenmusiker, der sendungsbewußte Jugendführer neben dem bescheidenen Experimentator. Jedoch es entstand kein Zerwürfnis, nur eine Vielfalt von Strömungen bekundete sich. Die Zeitschrift "Musik und Gesellschaft" - zwar nur von kurzer Lebensdauer - zeigt den Versuch, ein Bündnis mit dem öffentlichen Musik- und Kunstbetrieb einzugehen. Man glaubte an eine Wechselwirkung und an gegenseitige Anregung. Das gelang schließlich nicht.

Zum ersten Mal stand in der Diskussion neben dem überforderten Gemeinschaftsbegriff die kühlere Formulierung "Gesellschaft". Gemeinschaft in der Musik erläuterte Martin Luserke in den zwanziger Jahren so: "Musik ist nicht gemeinschaftsbildend, sondern höchstens gemeinschaftsbestätigend." Das Pathos von "Gemeinschaft" entspricht nicht der JMB insgesamt. Singgemeinde sagt etwas anderes aus. Ein Zug zur Gemeinsamkeit gehört freilich zur JMB. Und ist Jugend nicht immer unglücklich, wenn ihr Gemeinsamkeit versagt ist?
__________

1969/5.


Erste Seite (1) Vorherige Seite (189)Nächste Seite (191) Letzte Seite (248)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 190 -Sydow, Kurt: Musikpädagogische Beiträge aus drei Jahrzehnten