- 110 -Sydow, Kurt: Musikpädagogische Beiträge aus drei Jahrzehnten 
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In diese Gegenwart wirkt ein Musizierwille hinein, der neben der geregelten Kirchenmusik und dem Konzertwesen, neben der offiziellen Musikpflege im pädagogischen Zusammenhang, neben wissenschaftlicher Forschung viel zur musikalischen Erneuerung beigetragen hat, indem er zugleich auch alle traditionellen Formen des Musiklebens und des Musizierens in Frage stellte und neu wertete. Dieser Musizierwille dokumentiert sich in der Singbewegung, die, aus der singenden Jugendbewegung hervorgegangen, nach dem ersten Weltkrieg ihren Durchbruch gewann. Aus dem Volksliedsingen der wandernden Gruppen wuchs das Chorsingen mehrstimmiger Sätze und das Ergreifen der Chormusik eines Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach. In den Formen der Singfreizeiten, Chorwochen und Chorfahrten wird ein Zusammenhang von Musik und Leben gesucht, eine Lebensformung und -führung durch den Geist der Musik. Es geht nicht um das Einüben für Aufführungszwecke, um perfektionierte Darstellung für Konzert, Radio und Schallplatten, es geht nicht um Ästhetik und romantische Empfindungserlebnisse, sondern allein um das Suchen nach einem wahren Leben und um das Sichüben an der Gleichniskraft der Musik. Menschen aller Berufssparten entwickeln dabei hohes musikalisches Können. Sie singen, wie es nicht anders bei den vorhandenen Druckausgaben möglich war, Bachs Motetten aus alten Schlüsseln. Mit wahrer Entdeckerfreude singt man sich hinein und in tagelangem Zusammenwirken erreicht man die klangliche Gestalt der Werke, genießt sich aber auch in der Musik, erliegt zuweilen dem Rausch der Gemeinsamkeit und versucht zugleich, durch "Nachdenken" des Erfahrenen das Erlebte zu zügeln.

Die Musik wird in den kirchlichen Raum gestellt, ohne daß damit zunächst ein Bekenntnis verbunden ist, nur die Richtung des Suchens kündigt sich an. Geistliche Musik und Naturmythos, Kirche und erfülltes Gemeinschaftsleben, Schicksalsglaube und christliche Offenbarung - sie stehen in einer seltsamen Spannung. Mit dem Älterwerden der Singbewegung, mit dem Älterwerden ihrer Menschen wird dieses Musizieren durchwirkt von der Erkenntniskraft im Geistigen und geordnet durch Bindungen an das geistliche Wort.

Zu dieser Singbewegung darf ich mich selber zählen. Die Begegnung mit ihr hatte für den Musikstudenten, der an der Unverbindlichkeit eines kulturellen Musikbetriebes schon genügend Leerlauf erfahren hatte, durchaus den Charakter einer musikalisch-menschlichen


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