- 102 -Sydow, Kurt: Musikpädagogische Beiträge aus drei Jahrzehnten 
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Die Melodie ist im 4/4 geordnet, ein Beispiel des isometrischen Chorals. Natürlich handelt es sich um Musik der Sprache, wenn der Choral angestimmt wird, jedoch entsteht bei lässigem, spannungslosem, zu langsamen Singen die Gefahr, daß die rhythmische Gliederung der sprachlichen Sinneinheiten von der Metrik der Melodie zerschlagen wird. (Oft steht die Sprache in einer Zerreißspannung zu einer takt-metrisch geordneten Musik). Die Dichtung verwendet die Ich-Form und ist daher gegenwärtigen Streitern um liturgische Erneuerung als Gradualliedtext am Sonntag Lätare nicht mehr ganz begehrenswert.9 Uns scheint der Choral eine weithin gültige Ausprägung evangelischen Christentums zu sein.

Der erste Choralsatz der Motette ist eine schlichte Harmonisierung der Melodie. In dem zweiten fünfstimmigen Choralsatz, der den ersten Teil mit der Strophe "Unter Deinen Schirmen" abschließt, gewinnen besonders die Tenor- und Baßstimme melodisches Leben. Schon hier geschieht Musik aus der Sprache, ja, Musik gegenüber der Sprache. Die Stimmbewegungen sind nicht nur stürmisch, sondern lassen den Eindruck von durch Sturm bewegten Wogen entstehen. Die Musik zeichnet Donner und Blitz und bei "Hölle schrecken" entsteht eine Tonbewegung, die man als Figur des Kreuzes auffassen kann, in Antithese zu den gerade erklingenden Worten und auf den Sinn hinweisend: Jesus will mich decken. - Für den dritten Choralsatz, der den zweiten Teil abschließt, setzt Bach ein besonderes polyphones Gestaltungsmittel ein, nämlich die ständige Verzahnung der Abschlüsse und Neueinsätze der Stimmen. Diese Individualisierung der einzelnen Linien gibt dem Tonsatz einen besonders erregten Charakter, über dem die Choralmelodie ihre ruhige Bahn zieht. Unmißverständlich zeichnen die Linien des Basses und des Tenors beim Wort "leiden" das Kreuz, die Tonfiguren symbolisieren also. - Der Schlußchoral "Weicht ihr Trauergeister" erklingt wieder im schlichten Satz des Anfangs.

Kein Geringerer als Carl Maria von Weber hat in Verehrung zu seinem Lehrer, dem Abt Vogler - einen bedeutenden Repäsentanten der bürgerlichen Musikpflege Anfang des 19. Jahrhunderts - zwölf Choräle Bachs veröffentlicht und ihnen zwölf Voglersche Bearbeitungen als rühmlich gegenübergestellt. Er lobt und preist die harmonische

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