Vor diesem Hintergrund entwickelt sich das Phänomen des »Filesharing«. Die
Menschen stellen ihre Musikdateien mit der gleichen Selbstverständlichkeit umsonst
in den Tauschbörsen zur Verfügung, wie sie zuvor Kochrezepte in den BBS
tauschten oder an den Diskussionsforen des Usenet teilnahmen. Dies macht
allerdings lediglich die Anfangsphase von Filesharing verständlich und reicht nicht
aus, um den ungeheuren Siegeszug von Napster und seinen Nachfolgern zu
erklären.
Hierzu muss ein anderes Phänomen herangezogen werden, das seine Ursache in der
immer mobileren Lebensweise der Menschen, den immer kürzer werdenden
Produktlebenszyklen sowie einer immer größeren Auswahl an Konsum- bzw.
Freizeitgütern, die um die begrenzte Aufmerksamkeitsspanne der Konsumenten
konkurrieren, hat. Daraus resultiert Schnelllebigkeit, gar eine Wegwerfmentalität,
Mobilität und Flexibilität – Lebensumstände und -konzepte, die es bequemer und
angemessener scheinen lassen, einen schnellen und unkomplizierten Zugang zu Gütern zu
haben als Dinge auf Dauer zu besitzen.
Jeremy Rifkin spricht daher vom Beginn des »Zeitalters des Zugangs«. Die
Auswirkungen dieses neuen Zeitalters zeigen sich auch im Bereich des Tonträgermarktes.
Durch eine geradezu inflationäre Veröffentlichungspolitik der Major Companies, kürzere
Produktlebenszyklen und eine immer stärkere Orientierung an kurzlebigen
Trends scheinen die hohen Preise für eine CD immer weniger gerechtfertigt.
Gleichzeitig kann der Käufer auf Grund des beschränkten Budgets mit der
Vielzahl gleichwertiger und gleichzeitig bzw. in kurzen Abständen erscheinender
Produkte im Konsum mit dem Markt kaum Schritt halten. Hieraus resultiert eine
Orientierungslosigkeit hinsichtlich des erhältlichen Repertoires und eine Beliebigkeit
in Hinblick auf den konkreten Tonträger, die in einen Wertverfall der Musik
mündet.
»Die Krise des Angebots [...] hat zwei Erscheinungsformen: Einerseits ist
Musik in einem Ausmaß unübersichtlich geworden, dass die Zielgruppe sehr
damit beschäftigt ist, zu finden, was sie sucht. Und suchen ist anstrengend,
macht mürbe und launisch und kostet das Teuerste unserer Epoche: Zeit.
Andererseits, und das ist die Ursache des Einerseits, ist das Angebot von so
beliebiger Austauschbarkeit, von so endloser Differenzierungsarmut, dass den
Zielgruppen ein schleimiger ›Ohrenkater‹ an den Ambossknöcheln wächst [...].«3
Becker, Andreas und Ziegler, Marc: Ein Überlebensmodell für die
Musikindustrie – Napster und die Folgen. S. 11
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Die abnehmende Bereitschaft, für Musik zu bezahlen, ist aber nur ein Teil der Erklärung
des Phänomens »Filesharing«. Der Zugang zur Musik durch Filesharing ist nicht nur
umsonst. Er ist darüber hinaus auch wesentlich bequemer als die Frequentierung des
traditionellen Tonträgerhandels. Darüber hinaus sind die verfügbaren MP3-Dateien
keineswegs mehr nur auf den PC beschränkt. MP3-Dateien können mittlerweile auf
Stereoanlagen, in HiFi-Systemen für Autos und auch auf tragbaren Geräten abgespielt
werden.
Zusammenfassend kann man daher sagen, dass sich Filesharing auf Grund von vier
Faktoren so stark durchgesetzt hat: Die Musik ist kostenlos, der Zugriff einfach, das
Angebot umfassend und die Abspielbarkeit der MP3-Dateien flexibel.
Dabei hat die Verbreitung von MP3-Dateien längst eine kritische Masse erreicht, d. h. die
weitere Verbreitung wird durch positives Feedback nahezu selbstständig