- 65 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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Lebenswirklichkeit anzutreffen ist, zum Vorbild nimmt, weit entfernt; der Idee der Montage kommt sie dagegen sehr nahe.


 V


Mit seinem "physiognomischen" methodischen Ansatz knüpft Adorno an Walter Benjamin an, an dessen Verfahren, durch Versenkung in Einzelphänomene, auch und gerade in solche, die peripher oder marginal erscheinen, die geschichtliche und gesellschaftliche Bewegung als ganze zur Erscheinung bringen - bei Benjamin nicht so sehr in der Form der begrifflichen Abhandlung, sondern möglichst nah am Gegenstand, im Essay oder im dialektischen Bild. Benjamins unmethodische Methode wird von Adorno aufgenommen und zugleich kritisiert: "Dialektisches Denken ist der Versuch, den Zwangscharakter der Logik mit deren eigenen Mitteln zu durchbrechen. Aber indem es dieser Mittel sich bedienen muß, steht es in Gefahr, dem Zwangscharakter selber zu verfallen: die List der Vernunft möchte noch gegen die Dialektik sich durchsetzen. ... Das Allgemeine triumphiert übers Bestehende durch dessen eigenen Begriff, und darum droht in solchem Triumph die Macht des bloß Seienden sich wiederherzustellen aus der gleichen Gewalt, die sie brach. ... Daß das Unheil gerade von der Stringenz solcher Entfaltung bewirkt wird; daß jene geradezu mit der Herrschaft zusammenhängt, ist in der kritischen Theorie zumindest nicht explizit, welche wie die traditionelle vom Stufengang das Heil erwartet. ... Was die herrschende Gesellschaft transzendiert, ist nicht nur die von dieser entwickelte Potentialität, sondern ebensowohl das, was nicht recht in die historischen Bewegungsgesetze hineinpaßt. Die Theorie sieht sich aufs Quere, Undurchsichtige, Unerfaßte verwiesen, das als solches zwar vorweg ein Anachronistisches an sich trägt, aber nicht aufgeht im Veralteten, weil es der historischen Dynamik ein Schnippchen schlug. ... Benjamins Schriften sind der Versuch, in immer erneutem Ansatz das von den großen Intentionen nicht bereits Determinierte philosophisch fruchtbar zu machen. Sein Vermächtnis besteht in der Aufgabe, solchen Versuch nicht den verfremdenden Rätselbildern des Gedankens einzig zu überlassen, sondern das Intentionslose durch den Begriff einzuholen: der Nötigung, dialektisch zugleich und undialektisch zu denken." 61) Auf diese Nötigung antwortet Adornos "physiognomische" Methode. Über Benajmin hinaus geht sie insofern, als sie die Erkenntnis, die aus der Versenkung in die Phänomene entspringt, nicht nur im dialektischen Bild flüchtig aufblitzen läßt, sondern in der Klarheit des Begriffs festhalten will. Daß die angestrebte Synthese von dialektischem und undialektischem Denken im Mahler-Buch als vielfach nicht gelungen bezeichnet werden muß, daß die Phänomene oft nicht aus sich heraus zum Sprechen gebracht, sondern gewaltsam den Begriffen eingepaßt werden, habe ich vorhin zu zeigen versucht.


Nicht nur die Ontologisierung autonomer Kunst ist als Ursache dieses Scheiterns zu benennen; Adornos Geschichtsphilosophie tendiert darüber hinaus zur Ontologisierung von Geschichte selbst. Das Theorem von der Totalität des gesellschaftlichen Verblendungszusammenhangs, abgezogen von der Erfahrung der Gegenwart - von der historischen Katastrophe des Faschismus zuallererst, die die Kritische Theorie lehrte, daß auch eine entwickelte spätbürgerliche Gesellschaft in die Barbarei zurückfallen kann, und die jeden historischen Optimismus Lügen strafte


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