- 66 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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-, wird von Adorno auch nach rückwärts, in die Vergangenheit, projiziert. Die Geschichte des Individuums und die der Gesellschaft werden dabei in Analogie gedacht: das Glück in den Erinnerungsspuren der Kindheit wird "erst als vergangenes zum Glück..., das es so nie war"; 62) "seinem (d.h. Mahlers) Mißtrauen gegen den Frieden der imperialistischen Ära ist Krieg der Normalzustand, die Menschen sind ihm wider ihren Willen gepreßte Soldaten. Er plädiert für die Bauernlist gegen die Herren; für die, welche Reißaus nehmen vor der Ehe; für Außenseiter, Eingekerkerte, darbende Kinder, verlorene Posten. ... Mahlers Menschheit ist eine Masse von Enterbten."; 63) die Desillusion in Mahlers Spätwerk "antwortet auf das geschichtliche Leid, dessen Furchen Mahler auf dem Antlitz einer Vergangenheit gewahrt, von der noch zu singen und zu erzählen wäre." 64) Was Adorno in der Vergangenheit wahrnimmt, ist die Spur des Leidens, das in der Geschichte den Unterdrückten unaufhörlich angetan wurde und wird, das sie zu Objekten des geschichtlichen Prozesses machte. Nach der Möglichkeit, daß ihr Leiden umschlüge nicht nur in ohnmächtigen Protest, sondern in Rebellion, in verändernde gesellschaftliche Praxis, daß die Unterdrückten handelnd sich zu Subjekten der Geschichte machen könnten, fragt Adorno nicht; die versäumten Gelegenheiten der Geschichte, die unterlassenen Revolutionen, kurz: jenes kritische, oppositionelle Potential, das unter dem Druck jeder reppressiven Gesellschaft fast zwangsläufig sich bildet, auch wenn es sich nicht realisiert, sondern stumm bleibt, bezieht Adorno in die geschichtsphilosophische Reflexion nicht ein. Wie es freizusetzen wäre, um mit dem Fortbestand von Herrschaft zu brechen, ist daher gleichfalls nicht seine Frage. Wie in der Deutung des "Himmlischen Lebens" mißt er jede wirkliche oder mögliche gesellschaftliche Praxis an der unbedingten Versöhnung, am absoluten Glück - und daran gemessen wird gesellschaftliche Praxis fast gleichgültig: selbst "richtiges", auf Befreiung zielendes Handeln reiht sich unter diesem Blickwinkel in die schlechte Unendlichkeit der Gewalt, des Unversöhnten ein.


Adornos "Versuch, alle Dinge so zu sehen, wie sie vom Standpunkt der Erlösung sich darstellten", 65) Perspektiven herzustellen, "in denen die Welt ähnlich sich versetzt, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Lichte daliegen wird", 66) birgt in sich die Gefahr, daß die Konkretheit des geschichtlich-gesellschaftlichen Prozesses aus dem Blick gerät. In der Mahler-Studie ist Adonro dieser Gefahr nicht entgangen; unscharfe Kategorien sind, ähnlich wie bei der Beschreibung musikalischer Sachverhalte, Indiz dafür, daß Phänomene zu früh, ehe der "physiognomische Blick" sie entziffern und zueinander in Beziehung setzen konnte, begrifflich benannt wurden. So ist es zwar richtig, daß die zwangsrekrutierten Soldaten, die leibeigenen Bauern und die Handwerksgesellen des 18. Jahrhunderts, auf deren Seite Adorno Mahlers Musik sieht, allesamt als Ausgebeutete, Unterdrückte und Ohnmächtige ebenso Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse sind wie das Industrieproletariat des 19. Jahrhunderts (das Adorno übrigens nicht explizit nennt); die Aussage ist in ihrer Allgemeinheit freilich auch so banal wie wahr - und damit zugleich falsch, weil sie das Spezifische, Unterschiedliche dieser historischen und sozialen Situationen unterschlägt. Es ist auch richtig, den geschichtlich-gesellschaftlichen Prozeß als Kontinuum fortwährender Gewalt und Herrschaft zu beschreiben, zugleich aber auch falsch, weil der Formwandel, dem Herrschaft


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