- 47 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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seine Brüche die Schrift von Wahrheit. In ihnen erscheint die gesellschaftliche Bewegung negativ wie an ihren Opfern. Noch die Märsche werden in diesen Symphonien von dem vernommen und reflektiert, den sie verschleppen. Die aus der Reihe Gefallenen, Niedergetretenen allein, die verlorene Feldwacht, der bei den schönen Trompeten Begrabene, der arme Tambourg'sell, die ganz Unfreien verkörpern für Mahler die Freiheit. Ohne Verheißung sind seine Symphonien Balladen des Unterliegens, denn `Nacht ist jetzt schon bald'." 44)


IV


In Adornos "Marginalien zu Mahler" aus dem Jahr 1936, einem Aufsatz, aus dem Motive und sogar Formulierungen ins spätere Mahler-Buch übernommen wurden, las das Fazit sich anders: "seiner (d.h. Mahlers) Musik hat die gesellschaftliche Bewegung sich dargestellt an ihren wirklichen Opfern und konkreten Maß, dem individuellen Trieb und seinen Konflikten. Dafür ist das bündige Zeugnis die Konzeption des Mahlerschen Marsches, wie sie etwa im ersten Satz der Dritten Symphonie zwingend schon hervortritt. Er ist gemeint fürs Kollektiv und für solidarische Bewegung: gehört jedoch aus der individuellen Perspektive. Er befiehlt nicht sowohl als daß er mitnimmt; und nimmt er alles, noch das Unterste und Verstümmelte mit, so verstümmelt er doch nicht selber; das mitgenommene Individuum wird nicht getilgt: der Verein der Liebenden wird ihm zuteil. ... Die sonst bloß sterben mußten, wenn sie aus der Reihe fielen, der zu Straßburg auf der Schanz, die nächtliche Schildwache, der bei den schönen Trompeten Begrabene und der arme Tambourg'sell, Mahler formiert sie aus Freiheit. Den Unterlegenen verspricht er den Sieg. All seine Symphonik ist eine Rewelge. Ihr Held ist der Deserteur." 45)


Der frühere Text akzentuiert den sprengenden, ja politischen Charakter der Mahlerschen Musik: die bestimmte Negation des schlechten Bestehenden, die von Mahlers Musik artikuliert wird, vermag noch in diesem selbst Elemente aufzufinden, an die konkrete Utopie anknüpfen kann; sie vermag darüber hinaus diese Elemente so zu organisieren, daß die ästhetische Konstruktion über sich selbst hinausweist auf kollektive, verändernde gesellschaftliche Praxis. Die so bestimmte Intention der Mahlerschen Musik macht Adorno sich zur eigenen Sache - noch das Staccato der Sprache zeugt davon. Der spätere Text bringt dagegen implizit die geschichtsphilosophische Annahme zum Ausdruck, daß der "Verblendungszusammenhang" in der bestehenden Gesellschaft total geworden sei und sinnvolle verändernde Lebenspraxis angesichts der puren Negativität des "Weltlaufs" weder real mehr möglich noch in der Kunst zu antizipieren sei. Die total gewordene bestimmte Negation der Adornoschen Philosophie schlägt um in abstrakte. Dieser Umschlag ergreift im Mahler-Buch auch seinen Gegenstand: die reine "physiognomische" Betrachtung der Musik wird immer wieder aufgegeben, wo die Einzelbeobachtungen sich dem geschichtsphilosophischen Ansatz nicht fügen wollen; Die von Adorno konstatierten Aporien der Mahlerschen Musik gehören vielfach weniger dieser zu als Adornos Philosophie selbst. Wo der spätere Text auf der "lebendigen Totalität" des autonomen Werks beharrt, begrüßt der frühere gerade solche Züge an Mahlers Musik, die auf die Destruktion des autonomen Werks zielen und auf die Verbindung von Kunst und Lebenspraxis: "Mahler (ist) der einzige exemplarische


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