- 46 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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einer verändernden gesellschaftlichen Praxis "veranlassen" kann, ist jede Perspektive auf eine Gesellschaft jenseits der bürgerlichen verstellt, die Erstarrung des posthistoire hat die Gesellschaft wie die Kunst ergriffen. Da von der Lebenspraxis abgetrennt, ist autonome Kunst ihr gegenüber ohnmächtig, ist Adorno zufolge auch die Anstrengung des künstlerisch sich artikulierenden Subjekts, die Kluft zu überwinden und vom "ästhetischen Objekt" in Praxis überzugehen, vergeblich.


Adorno nimmt Mahlers Musik als Paradigma von Kunst an der Schwelle zur Moderne - und als Paradigma negativer Dialektik im Medium von Musik. So überrascht es nicht, daß in Adornos Mahler-Deutung eine besondere Affinität zu Mahlers Spätwerk sichtbar wird, das Adorno als Musik des Abschieds, der hoffnungslosen Trauer und der Resignation interpretiert und als solche überscharf abhebt von Mahlers frühen und mittleren Kompositionen. über das Spätwerk heißt es bei Adorno, Mahler habe am Ende so gestaltet, daß "jeder Takt gleich nah zum Mittelpunkt" sei 41) - exakt diese Formulierung findet sich in den "Minima Moralia" als Forderung an Philosophie: "In einem philosophischen Text sollten alle Sätze gleich nah zum Mittelpunkt stehen." 42) Die Übereinstimmung im Wortlaut bekräftigt den Eindruck, daß es eine besonders enge Beziehung gibt zwischen Adornos Auffassung des Mahlerschen Spätwerks und seinen philosophischen Grundpositionen. Die Interpretation des "Lieds von der Erde" und der Neunten Symphonie, Texte von bezwingender Sprachkraft, schließen in der Tat die ästhetische Erfahrung dieser Werke und die geschichtsphilosophische Ästhetik Adornos bündig zu einer Einheit zusammen: die dialektische Reflexion scheint hier ganz auf ästhetische Erfahrung gegründet ebenso wie die ästhetische Erfahrung in Reflexion gänzlich aufgehoben. Zentrum der Deutung ist das Festhalten am emphatischen Glück gerade in der Negation seiner realen Möglichkeiten: "An der Utopie hält Mahlers Musik fest in den Erinnerungsspuren der Kindheit, die scheinen, als ob allein um ihretwillen zu leben sich lohnte. Aber nicht weniger authentisch ist ihnen das Bewußtsein, daß dies Glück verloren ist und erst als verlorenes zum Glück wird, das es so nie war." 43) Von diesem unwiederbringlich verlorenen Glück nimmt das Subjekt im Spätwerk trauernd Abschied, ohne Hoffnung, daß das Glücksversprechen - das der Kindheit, das der Kunst - je eingelöst werde: das Glücksverlangen des Subjekts und die reale Lebenspraxis sind hermetisch gegeneinander abgedichtet. Der ungestillten und unstillbaren Sehnsucht aber bleibt das Subjekt treu auch in der Hoffnungslosigkeit; aus ihr schöpft es die Kraft zur radikalen Negation des heillosen Weltzustandes, in der einzig noch eine Ahnung des "ganz Anderen" bewahrt ist, in der allein die bürgerliche Gesellschaft noch an das erinnert wird, was sie den Menschen versprach und schuldig blieb: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Konsequenz aus der Abkehr des Subjekts von der realen Lebenspraxis ist seine Zurücknahme in sich selbst, letzte Konsequenz der Tod; Musik des Abschieds ist Mahlers Spätwerk, so wie Adorno es deutet, auch im Sinn des Abschieds vom Leben: "Alles sind letzte Worte. Der gehenkt werden soll, schmettert heraus, was er noch zu sagen hätte, ohne daß einer es hört. Nur daß es gesagt wird. Musik gesteht ein, daß das Schicksal der Welt nicht länger vom Individuum abhängt, aber sie weiß auch, daß dies Individuum keines Inhalts mächtig ist, der nicht sein eigener, wie auch immer abgespaltener und ohnmächtiger wäre. Darum sind


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