- 45 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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Kompositionstechnik, die dem Spezifischen des musikalisch Einzelnen nachspürt und dessen Potentialität freizusetzen und zu entfalten sucht. Angewendet auf musikalisches Material, dessen "unzeitgemäßer" Charakter oder dessen Herkunft aus der Volks- und Trivialmusik ungeglättet in der Komposition gezeigt werden, bringt die Mahlersche Variante auch das semantische Potential dieses Materials zur Erscheinung, sie führt den im Material angelegten Bezug zur Wirklichkeit über die bloße Andeutung hinaus zur Konkretheit. Angewendet zudem auf alle in die Komposition aufgenommenen Materialien, auf Bruchstücke des Archaischen und Banalen, auf "Naturlaute", auf Zitate aus der Kunstmusiktradition oder aus Mahlers eigenen Kompositionen, setzt Mahlers Variantentechnik die von Adorno konstituierte Dichotomie von "oberer" und "unterer" Musik außer Kraft: sie schafft keine Hierarchie von musikalischen Materialien und Sprachebenen, in der der "Kunstmusik" durchweg der Vorrang zukäme, sondern stellt die disparaten Materialebenen gleichberechtigt nebeneinander; die "musikalische Hochsprache" verliert so ihre Sonderrolle. Von der neuen musikalischen Umgebung, in die sie in Mahlers Kompositionen versetzt wird - einer Umgebung von präformierten musikalischen Gestalten, denen ihr Entstehungs- und Verwendungszusammenhang deutlich ablesbar bleibt, die gleichsam als "musikalische Realien" in die Komposition eingehen - bleibt die "musikalische Hochsprache" nicht unberührt: ihr Vokabular und ihre Syntax gewinnen gleichfalls eine realitätsbezogene, semantische Dimension. Wie die Entlehnungen etwa aus der Volksmusik konkret verweisen auf einen Teilbereich der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit, so auch, im neuen Zusammenhang, Mahlers Anknüpfung an die kunstmusikalische Überlieferung: sie verweist auf das "Kunstschöne", auf die Tradition autonomer Musik als einen Teilbereich derselben Realität.


Den Doppelcharakter, den die Hereinnahme der "unteren" Musik ins autonome Werk bei Mahler trägt, daß nämlich nicht nur dem Werk dadurch neue Bedeutungsfülle zuwächst, sondern auch sein Existenz quasi durch Aufsprengung von innen her bedroht ist, hat Adorno durchaus gesehen und benannt, zugleich aber abgewehrt: "Der verborgene Impuls seiner (d.h. Mahlers) Musik will den Überbau vertilgen, zu dem vordringen, was die Immanenz der Musikkultur verdeckt." 38) Als "verborgen" läßt sich dieser Impuls freilich nur bezeichnen, wenn der Primat des Werks vollständig außer Frage steht, wenn das "Untere" nicht in seiner Eigenständigkeit, sondern abhängig, als bloßes "Negativ der Kultur, die mißlang", 39) gesehen wird. An anderer Stelle wird der abwehrende Gestus der Adornoschen Argumentation noch deutlicher: "Das Mahlersche Subjekt ist weniger Seele, die sich bekundet, als ein seiner selbst unbewußter politischer Wille, der das ästhetische Objekt zum Gleichnis dessen macht, wozu er die realen Menschen nicht veranlassen kann. Weil aber der Kunst die leibhafte Praxis versagt ist, der sie nachhängt, kann ihr das nicht gelingen, kann Mahler eines Restes von Ideologie nicht sich entäußern." 40) Die geschichtlich gewordene Trennung von Kunst und Lebenspraxis erscheint hier jenseits jeder Geschichtlichkeit als ontologische Bedingung von Kunst schlechthin; Kunst ist für Adorno nur denkbar als autonome, als bürgerliche Kunst. Invariant, ungeschichtlich ist in diesen Sätzen auch der Zustand der Gesellschaft gezeichnet: wo ein - wenn auch "seiner selbst unbewußter " - politischer Wille die realen Menschen nicht zu


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