- 44 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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argumentativ entfaltet. Auffallend ist hier auch die Vagheit der musiksoziologischen Kategorien: was nicht als "autonome" Musik zu fassen ist, wird von Adorno unterschiedslos dem Begriff der "unteren Musik" subsumiert, ohne Rücksicht auf die Verschiedenheit seiner Erscheinung, seiner Geschichte, seines Verwendungszusammenhangs und seiner Konnotationen. Zur "unteren Musik" zählen etwa Volkslieder ebenso wie Militärmusik, Posthornblasen ebenso wie Gesellschaftstänze oder Vogelstimmenimitation, Cafehausmusik ebenso wie Choräle, böhmische Kirchenmusik oder "Kitsch". Außer der Dichotomie von "oben" und "unten" führt Adorno keine Differenzierungen ein, die dem jeweils besonderen Charakter dieser verschiedenen musikalischen Idiome Rechnung trügen, er fragt nicht nach ihrer je eigenen Bedeutung, die z.B. aus ihrer regionalen Herkunft, ihrer Geschichte oder ihrer klassenspezifischen Verbreitung und Funktion sich erschließen ließe. Die gewaltsame Zusammenfassung höchst verschiedener Phänomene unter dem Namen der "unteren Musik" geschieht offenkundig von der Position der "hohen Musik", des autonomen Kunstwerks aus, das für Adorno invarianter Bezugspunkt bleibt - die Elle, an der er auch Mahlers Musik mißt. Der Bruch zwischen "hoher" und "unterer" Musik sei unheilbar; apodiktisch stellt Adorno fest, daß "die disparaten Niveaus nicht dekretorisch wieder zu vereinigen" seien, 35) ohne dies freilich irgend zu begründen. So deutet er Mahlers Ausweitung des kompositorischen Materials hin auf Elemente der Volks- und Trivialmusik ausschließlich als Erweiterung des autonomen Werks, dem dadurch Gehalte sich öffnen, die ihm zuvor unzugänglich waren: "Jakobinisch stürmt die untere Musik in die obere ein. ... Symphonik gräbt nach dem Schatz, den allein noch der Wirbel von Pauken aus der Ferne oder Stimmgeräusche verheißen, seitdem Musik als Kunst häuslich sich einrichtete. ... Das ungehobene Untere wird als Hefe in der oberen Musik verrührt. Drastik, Sinnfälligkeit eines musikalisch Einzelnen, das weder auszutauschen noch zu vergessen wäre: die Kraft des Namens ist vielfach in Kitsch und Vulgärmusik besser behütet als in der hohen, die schon vorm Zeitalter radikaler Konstruktion all das dem Stilisationsprinzip opferte. Jene Kraft wird von Mahler mobilisiert." 36) Die Hereinnahme des "Unteren" in die autonome Musik rettet dieses zugleich aus seiner dinghaften, erstarrten Existenzweise; sie einzig ist fähig, die im "Unteren" sedimentierten Bedeutungen zum Sprechen zu bringen, indem sie sie der "lebendigen Totalität" des Werks als Kompositionselemente einfügt.


Das autonome Werk allerdings erfährt durch die Einbeziehung von präformiertem musikalischem Material aus der Trivial- und Volksmusik entscheidende Veränderungen, die an seine Existenz rühren, so wie Adorno sie versteht: "Die autonom-musikalische Entwicklung stellt fensterlos, lediglich durch die eigene Konsequenz, wie die Leibnizsche Monade das Ganze vor." 37) Die Bruchstücke aus der "unteren" Musik verweisen dagegen direkt auf soziale und historische Wirklichkeit: Der funktionale Zusammenhang, dem sie entstammen, ihr ursprünglicher gesellschaftlicher und geschichtlicher Ort bleibt erkennbar, auch wenn sie im Kontext eines Kunstwerks erscheinen, er haftet an ihnen als Konnotation. Damit stellen sie das autonome Werk als "Monade" von innen her in Frage: sie selbst bilden im Werk "Fenster" zur Realität. Die Gefährdung der Autonomie mag man bei Mahler noch verstärkt sehen durch seine von Adorno als "Variante" bezeichnete


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