- 43 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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Vermittlung" teilt sich Adorno zufolge auch Mahlers musikalischem Material mit. "Durchbrüche" wie im Kopfsatz der Ersten Symphonie suchen der "universalen Vermittlung" zu entkommen, indem sie den "Weltlauf" und das, was anders wäre, unvermittelt einander entgegensetzen; Diese abstrakte Gegenüberstellung sieht Adorno in Mahlers späteren Kompositionen mehr und mehr zurückgenommen zugunsten einer Vermittlung beider, die verdeutlicht, daß das "ganz Andere" mit dem "Weltlauf" zwar nicht identisch ist, jedoch aus ihm entspringt. Die Vermittlung reicht ins musikalische Material hinein: zum Material wird, "was der Weltlauf erfaßt, wovon er sich bewegt und was doch nicht ganz ihm gleicht; das Beherrschte, das drunten harrt oder hinabgestoßen wurde". 32) "Soll das Andere nicht verschachert werden, so ist es incognito, beim Verlorenen aufzusuchen. Nicht was über den Betrieb der Selbsterhaltung erhaben sich dünkt, von dem es profitiert, entgeht ... dem Schuldzusammenhang, sondern was unter die Räder kam, die Last zu tragen hat und daran zu jenem Gegendruck erwacht, den die coincidentia oppositorum von Mahlers Musik zusammendenkt mit dem utopischen Sprengstoff ... Das nicht Domestizierte, in das Mahlers Musik mit Einverständnis sich versenkt, ist zugleich auch archaisch, veraltet. Deswegen band die Kompromißfeindliche sich ans tradierte Material. Es gemahnte sie an die Opfer des Fortschritts, auch an die musikalischen: jene Sprachelemente, welche vom Prozeß der Rationalisierung und Materialbeherrschung ausgeschieden wurden." 33) Das Kunstschöne und die ihm zugehörige musikalische Sprache sind allzu kompromittiert durch ihre Teilhabe an Herrschaft, um zur Darstellung der Utopie noch tauglich zu sein; nur jenseits des Kunstschönen, im "Naturlaut", in der "unteren Musik" und im Idiom des Unzeitgemäßen bieten sich Mahler musikalische Mittel dar, das "ganz Andere" in seiner Differenz vom "Weltlauf" zur Erscheinung zu bringen. Unmittelbarkeit ist freilich auch hier nicht möglich, da jener "untere" Musikbereich von der universalen Vermittlung, von erlittener Herrschaft gezeichnet und entstellt ist. Die Utopie kann so nicht rein und unverstellt zur Darstellung gelangen, sondern nur als "überschärfte Differenz von der musikalischer Hochsprache" als "Denaturierung der zweiten Natur", als "bestimmte Negation der musikalischen Kunstsprache" - vermittelt also durch das Kunstschöne, das in den "Weltlauf" verstrickt ist und dadurch wiederum "gebrochen".


An der Weise, in der Adorno Mahlers Anknüpfung an Trivial- und Volksmusik interpretiert, lassen sich einige Probleme seiner Mahler-Deutung insgesamt aufzeigen. Adorno trennt scharf zwischen der "oberen" und der "unteren" Musik und konstatiert zwischen deren Sphären einen "Bruch", der nicht aufzuheben sei: "Der Streit der hohen mit der unteren Musik, in dem seit der industriellen Revolution der objektive gesellschaftliche Prozeß von Verdinglichung, zugleich von Auflösung der naturwüchsigen Residuen ästhetisch sich spiegelte, und den kein künstlerischer Wille schlichtete, erneuert sich in Mahlers Musik. Seine Integrität hat für die Kunstsprache sich entschieden. Aber der Bruch zwischen beiden Sphären war zu seinem eigenen geworden, dem von "Gebrochenheit". 34) Merkwürdig blaß bleibt dabei die im engeren Sinne materialistische Argumentation: der "objektive Prozeß der Verdinglichung" wird (hier und anderswo im Mahler-Buch) nur benannt, nicht analysiert, der Zusammenhang von Musikproduktion und Warenproduktion wird implizit behauptet, jedoch nicht


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