- 42 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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Formkategorien läßt sich Mahlers Kompositionstechnik zulänglich beschreiben: Mahler "entwirft eine veränderte Idee von Technik selber, die integrale, die des Inbegriffs von kompositorischem Zusammenhang. An ihm partizipieren alle musikalischen Dimensionen als Teilmomente; er läßt keine von ihnen unangefochten." 28) Die spezifische Mahlersche Technik der Komposition, die das Neue des musikalischen Zusammenhangs konstituiert, bestimmt Adorno als "Variante", die "technische Formel für das episch-romanhafte Moment der immer ganz anderen und gleichwohl identischen Gestalten." 29) Als "Gestalten" bleiben Mahlers Themen im allgemeinen Umriß erkennbar; ihre konkrete melodische, harmonische, rhythmische und instrumentatorische Formulierung unterliegt jedoch ständiger Veränderung, Umbeleuchtung, Neucharakterisierung. Die Technik der Variante unterscheidet sich darin von der Durchführungstechnik der klassischen Sonate oder auch von der Technik der Variation, die klar umrissene Themen voraussetzen. "Der Begriff des Themas als eines bestimmt Gesetzten und dann sich Modifizierenden ist ihm (d.h. Mahler) nicht adäquat. Eher ergeht es dem Kern wie Erzähltem in der mündlichen Überlieferung: bei jeder neuen Wiedergabe wird es ein wenig anders." 30) "Gleich dem Erzähler sagt Mahlers Musik nie zweimal das Gleiche gleich: so greift Subjektivität ein. Durch sie wird das Unvorhersehbare, Kontingente, das sie berichtet, zur Überraschung als Form, dem Prinzip des immer ganz Anderen, das eigentlich erst emphatisch Zeit konstituiert." 31) Die Analogisierung der Mahlerschen Variantentechnik einmal zum mündlichen Erzählen, andererseits zur literarischen Gattung des Romans ist problematisch und für das Wesen der Variante wenig erhellend, handelt es sich doch dabei um Typen der Epik, deren Gegensätze um vieles größer sind als ihre Gemeinsamkeiten, hinsichtlich ihrer Form wie auch hinsichtlich ihres historischen Ortes und ihrer sozialen Funktion. Wieweit Analogien zwischen der Musik Mahlers und literarischen Formen, wie sie vor allem das vierte, "Roman" überschriebene Kapitel der Studie durchziehen, tragfähig sind, ob nicht durch den Nachweis philologischer Ungenauigkeiten - die, was die literarischen Gattungen betrifft, zu vermuten sind - ihre Evidenz gründlich in Frage gestellt würde - diese Frage kann hier nur am Rande gestellt, nicht aber beantwortet werden. Kehren wir daher zu Adornos Bestimmungen der Mahlerschen Variante zurück. Die Variantentechnik zeigt Bekanntes stets neu, in jeweils unvorhergesehener und unvorhersehbarer Formung; ihr Veränderungsprinzip selbst wird stets variiert. Sie geht darin weiter als die Technik der Variation - die am einmal gesetzten Veränderungsprinzip konsequent festhält bis zum Ende des Themas und dann zu einer neuen Setzung wechselt -, indem sie jegliche bestimmte Setzung, sei es die eines Themas oder die eines bestimmten Veränderungsprinzip, von vornherein außer Acht läßt. Die Variante kennt nur ein Prinzip: das der immerwährenden Abweichung. Die Variante trägt improvisatorisch-spontane Momente in die Komposition hinein; sie entfaltet gleichsam aus den immanenten Eigenheiten des Materials heraus dessen Potential in der Zeit und dynamisiert so die sinfonische Form und die sinfonische Dauer gleichermaßen. Sie führt allerdings auch zu einer neuen, spezifischen Aporie: die in ihr angelegte freie Bewegung der einzelnen musikalischen Gestalt und die Idee sinfonischer Totalität lassen sich nicht ohne weiteres miteinander vereinbaren.


"Gebrochenheit", "Leiden an Entfremdung als an universaler


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