- 41 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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musikalischen Formen und Materialien; Erfahrung der Entfremdung läßt sich auf der Ebene der Kompositionstechnik daran ablesen, daß der Gebrauch überlieferter Formen und Materialien für Mahler offensichtlich problematisch wird. Die tradierte Sonatenform etwa löst das Spannungsverhältnis zwischen dem "Eigenleben" des musikalisch Einzelnen und der Totalität des "Immanenzzusammenhangs" eher zugunsten des Ganzen auf, dem das Einzelne subsumiert wird. Als bestimmende musikalische Form wird die Sonate fragwürdig, wenn der Immanenzzusammenhang selbst fragwürdig wird - anders gesprochen: wenn das Individuum sich in der gesellschaftlichen Totalität nicht mehr aufgehoben wissen kann, sondern Gesellschaft primär als repressiv erfährt. So konstituiert bei Mahler auch nicht mehr die Sonate seine sinfonische Form. "Die vorhandenen Mittel schicken sich nicht zur Mahlerschen Intention aufs nicht Vorhandene." 23) Adorno betrachtet Mahlers Formgestaltung deshalb zunächst unabhängig von überkommenen Ordnungsprinzipien und sucht ihre "materialen" Formkategorien auf, d.h. Formkategorien, die nach ihrem Sinn, nach ihrer Funktion innerhalb der Komposition sich unterscheiden lassen statt nach "klassifikatorischen Schemata". 24) Als wesentliche Gattungen der Mahlerschen Formidee bestimmt er die schon erwähnte des "Durchbruchs", des weiteren "Suspension", "Erfüllung" und "Einsturz". Wird im "Durchbruch" der Immanenzzusammenhang durchschlagen, damit ein exterritoriales musikalisches Bild der Utopie unmittelbar zur Erscheinung gebracht werden kann, so ist diese Unmittelbarkeit in den Suspensionen zurückgenommen. "Die Suspensionen kündigen die Formimmanenz, ohne die Gegenwart des Anderen positiv zu behaupten; Selbstbesinnungen des in sich Befangenen, nicht länger Allegorien des Absoluten." 25) Einander verwandt, aber entgegengesetzten Sinnes sind die Kategorien "Erfüllung" und "Einsturz". "Erfüllungen" nennt Adorno "thematische Gestaltungen spezifischen Wesens", in denen die musikalische Entwicklung ihr - erwartetes und erhofftes - Ziel findet, nicht nur vorübergehend im Sinne eines flüchtigen Höhepunktes, den der musikalische Fortgang sogleich auslöscht, sondern als erfüllte Dauer. "Nimmt Mahler Abschied vom glorreichen Augenblick, so hinterläßt ihm dieser Flächen der dauernden Gegenwart. In seinen Erfüllungspartien verweilt, was sonst entflieht, ... Die ... G-Dur-Episode nach der Exposition des ersten Satzes der Vierten Symphonie..., eine selige Stelle, liegt vor dem Hörer da wie das Dorf, vor dem ihn das Gefühl ergreift, das wäre es." In den Erfüllungspartien wird der "Frieden eines wunschlos Heimatlichen, geheilt vom Schmerz der Grenze", 26) vernehmbar. "Einsturz" ist "die negative Erfüllung": "Tritt in den Erfüllungsfeldern ein, was die Entwicklung verhieß, so ereignet sich in den Einstürzen, wovor der musikalische Verlauf sich ängstigt." 27)


Die "materialen" Formkategorien überlagern sich bei Mahler mit den überkommenen architektonischen, die freilich nicht einfach übernommen werden, sondern einschneidende Veränderungen erfahren. Die Formen des Sonatenhauptsatzes, des Scherzos, des Rondos, der Kantate oder des Lieds werden miteinander vermischt, durchdringen einander, gewinnen Mehrdeutigkeit, sie werden durch Mahlers kompositorische Maßnahmen gleichsam einer Kritik unterzogen; sie bleiben als Satztypen erkennbar und werden zugleich aus sich heraus erneuert.


Weder mit den "materialen" noch mit den "architektonischen"


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