- 40 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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der - bestimmten - Wahrheit der Kunst, konkret: nach dem Wahrheitsgehalt der Kunstwerke, der nicht abzulösen ist von deren spezifischer Daseinsform und ihrer besonderen Stellung zum und im historischen Prozeß. Die Kunstwerke sind selbst geschichtlich im doppelten Sinn, sie sind "Resultat des (geschichtlichen) Prozesses sowohl wie er selbst im Stillstand"; 17) insofern sind sie, die "authentischen" unter ihnen zumindest, "ihrer selbst unbewußte Geschichtsschreibung ihrer Epoche". 18) Der Wahrheitsgehalt der Werke hat darin seinen "Zeitkern"; er ist nicht "außer der Geschichte, sondern deren Kristallisation in den Werken". 19) Die Wahrheit des geschichtlichen Prozesses ist in den Kunstwerken festgehalten und objektiviert; als solcherart ästhetisch vermittelte wird sie der Deutung zugänglich: "Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke ist die objektive Auflösung des Rätsels eines jeden einzelnen. Indem es die Lösung verlangt, verweist es auf den Wahrheitsgehalt. Der ist allein durch philosophische Reflexion zu gewinnen. Das, nichts anderes rechtfertigt Ästhetik." 20)


III


Mit hermeneutischen Reflexionen zum ersten Satz der Ersten Sinfonie eröffnet Adorno sein Mahler-Buch; aus ihnen entwickelt er eine wesentliche Formkategorie der Mahlerschen Sinfonik, die des "Durchbruchs". Im "Durchbruch" wird der musikalische Immanenzzusammenhang gleichsam durchschlagen durch die einmalige Erscheinung musikalischer Gestalten, die in ihm exterritorial erscheinen. Den gesellschaftlichen Gehalt des "Durchbruchs" entziffert Adorno, indem er den musikalischen Immanenzzusammenhang in Analogie setzt zur geschichtlich-gesellschaftlichen Totalität, zum entfremdeten "Weltlauf", während er Mahlers "exterritoriale" musikalische Gestalten als "Allegorie des Absoluten" auffaßt; daher deutet er die Formkategorie des "Durchbruchs" als Sinnbild eines momentanen Einstands der Geschichte, einer utopischen Stillstellung des "Weltlaufs", worin das, "was anders wäre", das Transzendente, für einen flüchtigen Augenblick unmittelbar zur Erscheinung gelangt. Der "Durchbruch" steht so zugleich für den unversöhnten Gegensatz zwischen "Weltlauf" und Transzendenz. "Das Subjekt ist eingespannt in den Weltlauf, ohne darin sich wiederzufinden, ohne ihn von sich aus verändern zu können; ... Darum plädiert Mahlers Symphonik ... gegen den Weltlauf. Sie ahmt ihn nach, um ihn zu verklagen; die Augenblicke, da sie ihn unterbricht, sind zugleich die des Einspruchs. Nirgends verkleistert sie den Bruch zwischen Subjekt und Objekt; lieber zerbricht sie selber, denn daß sie Versöhnung als gelungene vortäuschte." 21) Damit ist bereits der zentrale Begriff der Adornoschen Mahler-Interpretation gesetzt: "Gebrochenheit", die den "Erfahrungskern" der Mahlerschen Musik bilde, "das Gefühl der Entfremdung des musikalischen Subjekts". 22) (Das musikalische Subjekt übrigens fällt mit der empirischen Person des Komponisten keineswegs zusammen; gemeint ist vielmehr das musikalisch sich artikulierende Individuum als zugleich gesellschaftliches, dessen Individuation unter spezifischen sozialen und historischen Bedingungen sich vollzieht und das in seiner Besonderheit mit dem gesellschaftlichen Allgemeinen vielfältig vermittelt ist.)


Entfremdung, "Gebrochenheit" prägt in Mahlers Sinfonik nach Adorno notwendig den Umgang des musikalischen Subjekts mit


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