- 39 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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setzung.  13) Objektive Geltung kommt einer "musikalischen Physiognomik" in genau dem Maße zu, in dem ihr Autor über ästhetische Erfahrungsfähigkeit verfügt; allein aus diesem subjektiven Potential - und aus der subjektiven ästhetischen Kompetenz, auf die dieses sich stützen kann - bezieht "musikalische Physiognomik" ihre Legitimation und, im Glücksfall des Gelingens, ihre Verbindlichkeit und Aussagekraft.


In den ersten Sätzen des Mahler-Buchs legt Adorno dar, daß die Musik Mahlers weder auf der Ebene reiner musikalisch-technischer Analyse noch auf der programmatischer Deutung adäquat beschrieben werden könne, sondern den "physiognomischen Blick" geradezu erfordere: "Mahler ... ist darum gegen das theoretische Wort besonders spröde, weil er der Alternative von Technologie und Vorstellungsgehalt überhaupt nicht gehorcht. Bei ihm behauptet im Reinmusikalischen hartnäckig sich ein Rest, der doch weder auf Vorgänge noch auf Stimmungen zu interpretieren wäre. Er haftet am Gestus seiner Musik. Ihn verstünde, wer die musikalischen Strukturelemente zum Sprechen brächte, die aufblitzenden Intentionen des Ausdrucks aber technisch lokalisierte. Mahler ist in Perspektive nur dadurch zu rücken, daß man noch näher an ihn heran, daß man in ihn hineingeht und dem Inkommensurabeln sich stellt, ... Seine Symphonik hilft dazu durch die zwingende Spiritualität ihrer sinnlich-musikalischen Konfigurationen. Anstatt Ideen zu illustrieren, ist sie konkret zur Idee bestimmt. Indem ein jeglicher ihrer Augenblicke, ohne Ausweichen ins Ungefähre zu dulden, seiner kompositorischen Funktion genügt, wird er mehr als sein bloßes Dasein; eine Schrift, welche die eigene Deutung vorschreibt. Die Kurven solcher Nötigung sind betrachtend nachzuzeichnen, anstatt daß über die Musik von einem ihr äußerlichen, vermeintlich fixen Standpunkt aus räsoniert würde..." 14) Die Metapher von der "Schrift, welche die eigene Deutung vorschreibt" bestätigt, daß Adorno seine Annäherung an Mahler nicht als wissenschaftliche, sondern als philosophische verstanden wissen will, denn "die Idee der Wissenschaft ist Forschung, die der Philosophie Deutung". 15) Die Bedeutung der Metapher reicht über diese Feststellung hinaus: sie ist eine Abbreviatur der Adornoschen Ästhetik. Musik - und nicht erst ein Werk als Ganzes, sondern bereits dessen flüchtigste Partikel, der einzelne musikalische Augenblick - ist ein Text, enthält eine Mitteilung, die allerdings nicht unmittelbar verständlich ist, sondern nur hermeneutischer Anstrengung sich erschließt; ein Text, der zudem nicht beliebig oder auch nur mehrdeutig sich auslegen läßt, sondern seine eigene, objektiv richtige Deutung vorschreibt, aber zugleich verbirgt: was Adorno in der "Ästhetischen Theorie" als "Rätselcharakter der Kunst" theoretisch entfaltet, wird hier zum sprachlichen Bild kontrahiert. Der musikalische Augenblick ist mehr noch als Rätseltext, nämlich "Schrift"; die Konnotationen, die sich an diese Wortwahl knüpfen - heilige Schrift, Menetekel, Prophetie - verdeutlichen, daß die Dechiffrierung des im musikalischen Augenblick verborgenen Rätsels alles andere ist als unverbindliches Spiel: Adornos musikphilosophische Hermeneutik zielt auf Wahrheit. Wahrheit steht nicht als absolut und überzeitlich jenseits des geschichtlichen Prozesses und seiner Dialektik, sie hat daran vielmehr teil und ist selbst geschichtlich: "Wahrheit ist einzig als Gewordenes." 16) Adorno fragt deshalb auch nicht nach "der" Wahrheit im Sinne eines unbestimmten Allgemeinen, sondern nach


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