- 38 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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der Vermittlung von musikalischer Technik und geschichtlich-gesellschaftlichem Prozeß in der einzelnen Komposition, ihren Formen, ihrem Material selbst. Im Schönberg-Kapitel der "Philosophie der Neuen Musik" hat Adorno diese immanente Ebene der Dialektik in bezug auf das musikalische Material skizziert: "... das Material (ist) selbst sedimentierter Geist, ein gesellschaftlich, durch das Bewußtsein von Menschen hindurch Präformiertes... Als ihrer selbst vergessene, vormalige Subjektivität hat solcher objektive Geist des Materials seine eigenen Bewegungsgesetze. Desselben Ursprungs wie der gesellschaftliche Prozeß und stets wieder von dessen Spuren durchsetzt, verläuft, was bloße Selbstbewegung des Materials dünkt, im gleichen Sinne wie die reale Gesellschaft, noch wo beide nichts mehr voneinander wissen und sich gegenseitig befehden. Daher ist die Auseinandersetzung des Komponisten mit dem Material die mit der Gesellschaft ..." 12) Dem Gedanken von der "Eigengesetzlichkeit des Materials", der in dieser Passage exponiert wird, kann hier nicht nachgegangen werden. Bedeutsam im Zusammenhang mit Adornos methodischem Vorgehen ist vor allem, daß bereits das musikalische Material, noch vor seiner kompositorischen Bearbeitung, als dialektische, subjektiv-objektive Einheit aufgefaßt wird; die Bewegung des musikalischen Materials und die der Gesellschaft speisen sich aus der selben Quelle, sie sind zwar nicht miteinander identisch, so daß aus der Untersuchung des einen Bereichs die Entwicklung des anderen zwingend sich ableiten ließe, sie sind jedoch miteinander vermittelt und stehen in gewisser Weise in Analogie zueinander.


Was das Spezifische "musikalischer Physiognomik" ausmacht, läßt sich von hier aus vielleicht präziser fassen: indem die subjektive Auseinandersetzung des Komponisten mit dem musikalischen Material, der musikalischen Formensprache und dem musikalischen Bewußtsein, die er als gleichsam objektive Voraussetzungen des Komponierens vorfindet, nachvollzogen wird, und zwar so, daß sie transparent wird als Auseinandersetzung mit der jeweiligen geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit, enthüllt sie sich zugleich als Moment des geschichtlich-gesellschaftlichen Prozesses und bringt dessen Wesen zur Erscheinung. "Physiognomischer Blick" ist die Fähigkeit zu solchem Nachvollzug, die Fähigkeit Kunstwerke nicht primär als objektiv gegebene "Dinge" wahrzunehmen, sondern an ihnen die Spuren jener Auseinandersetzung der künstlerischen Subjektivität mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu erkennen. "Insistierend-betrachtend" nennt Adorno diese Art des Sehens: sie sucht die Besonderheit des einzelnen Kunstwerks herauszuarbeiten, indem sie auf genauester Betrachtung seiner Details und ihres immanenten Zusammenhangs beharrt. Daß das geschichtliche, prozeßhafte Moment von Kunstwerken sich gerade einer Betrachtungsweise offenbart, die sich dem Kunstwerk eher kontemplativ nähert, als sei es ein Gegenstand von überzeitlicher Dauer, ist nur scheinbar paradox: erst die Vertiefung in die objektive Struktur des Werks läßt den Betrachter die "Logik seines Produziertseins" erkennen und legt die verschütteten Spuren der Arbeit frei, der das Werk seine Existenz verdankt.


"Musikalische Physiognomik" ist daher keine Methode im Sinne exakter Wissenschaft (und wohl deshalb sucht man bei Adorno vergebens nach einer Begriffsdefinition oder nach verbindlichen Anwendungskriterien). Für den "physiognomischen Blick" ist die Fähigkeit zur ästhetischen Erfahrung die wesentlichste Voraus-


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