- 37 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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ger  Zeitgenosse der Moderne gezeichnet. Sein geschichtliches Bild erhält konkretere Kontur: ungleichzeitiger Zeitgenosse einer Moderne, der es im Medium der Kunst um eine Veränderung der Kunst selbst wie auch um eine Veränderung der Gesellschaft, um die Abschaffung von Herrschaft zu tun ist. An dieser Sicht auf Mahler hat Adorno in seiner späteren Studie nicht festgehalten.


 II


Adornos Mahler-Buch trägt den Untertitel "Eine musikalische Physiognomik", ein Begriff, der die methodische Intention der Arbeit programmatisch vorausnimmt, für Adorno auch darüber hinaus eine bedeutende Rolle spielt. Der Terminus "Physiognomik" stammt ursprünglich aus der Ausdrucksphysiologie und bezeichnet in ihr einerseits ein Teilgebiet, das die Beziehung zwischen der Gestaltung des menschlichen Körpers und des Charakters behandelt, andererseits die darauf fußende Lehre von der Fähigkeit, aus der Physiognomie eines Menschen auf dessen innere Eigenschaften zu schließen. Obwohl Adorno den Begriff tatsächlich der Psychologie entlehnte, ist dessen Ursprungsbedeutung für "musikalische Physiognomik" nicht ganz … la lettre zu nehmen. Eine strenge Begriffsdefinition zu geben, hat Adorno m. W. nicht unternommen, ein Bestimmungsversuch ist daher auf Umschreibungen verwiesen: es geht um "technische und physiognomische Analyse, welche noch formale Elemente als solche des im musikalischen Zusammenhang konstituierten musikalischen Sinns, oder seiner Absenz, benennt und von ihm auf Gesellschaft schließt." 10) Insofern ist "physiognomischer Blick für den gesellschaftlichen Ausdruck künstlerischer Formensprachen ... ein notwendiges Moment musiksoziologischer Erkenntnis. Ihr dürfte zum Kanon dienen, daß alle musikalischen Formen, alle musiksprachlichen und -materialen Elemente selber einmal Inhalte waren; daß sie von Gesellschaftlichem zeugen und von dem betrachtend-insistierenden Blick als gesellschaftliche wieder erweckt werden müssen." 11) Die Methode zielt also auf eine Synthese von musikalisch-analytischen, soziologischen und historischen Aspekten. Indem in ihr das musikalisch Einzelne ins Zentrum gerückt wird - genauer: dessen musikalischer Sinn und gesellschaftlicher Ausdruck -, impliziert sie in mehrfacher Hinsicht Abgrenzungen zu anderen, eher traditionell-akademischen Zugangsweisen zu Musik: auf musikalisch-technische Analyse ist der Physiognomiker zwar verwiesen, kann bei ihr jedoch nicht stehenbleiben, da sie nur den immanent-musikalischen Zusammenhang erhellt, nicht aber dessen gesellschaftliche Bedeutung; auf profunde Kenntnisse der Musikgeschichte kann der Physiognomiker ebensowenig verzichten, aber mit ihnen allein läßt sich der Zusammenhang zwischen den musikalischen Phänomenen und ihrer geschichtlichen Entwicklung einerseits und dem gesellschaftlichen Prozeß andererseits nicht klären; die soziologische und historische Analyse, nicht minder unentbehrlich, erlaubt keine zwingenden Schlüsse auf die je konkrete musikalische Faktur und den ästhetischen Sinn. Die geschichtliche, gesellschaftliche und musikalisch-technische Dimension musikalischer Werke sind zwar als verschiedene, aber nicht streng voneinander getrennte, sondern vielfältig miteinander vermittelte Konstituenten ästhetischen Sinns zu begreifen, als Momente einer dialektischen Einheit. Nicht erst bei der Untersuchung des Verhältnisses von musikalischem Werk auf der einen und Gesellschaft auf der anderen Seite setzt physiognomische Analyse ein, sondern fragt nach


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