- 110 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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von Ihnen den höchsten gelernt habe, so werden Sie mir verzeihen, wenn ich ihn nun auch anwende. Ich bin sicher, dass ich, dem es ja s e h r schwer fällt, einmal viel Besseres schreiben werde als ich bis heute es vermochte; das dann das Frühere auch zu tragen vermag. Aber was mir kompositorisch eigentlich vorschwebt, habe ich bis heute nicht realisiert. Nachdem Sie und Webern so lange gewartet haben, warum sollte ich ungeduldig sein? Mit der Drucklegung der Sachen ist es etwas anderes; aber wenn ich zum ersten Mal im Programm des Musikvereins oder der Internationalen erscheine, dann müsste das schon die ganze Figur herausstellen und selbst den Stefans unmöglich machen, von einer Talentprobe und ähnlichem zu sprechen. Das alles verschärft sich für mich dadurch, dass ich mich ja als Komponist in einer, freundlich ausgedrückt, Krise und, unfreundlich ausgedrückt, Stagnation befinde. Seit zweieinhalb Jahren habe ich nichts Grösseres mehr zuende gebracht. Ehe ich mir aber selber wieder schlüssig bewiesen habe, dass ich ein Komponist bin, kann ich den anderen auch nicht zumuten, es zu glauben. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie gerade dies auf mir lastet, es vergällt mir eigentlich meine ganze Existenz, hat mich der Universität gegenüber, die mir die Zeit stiehlt, mit Hass geladen und ist auch der tiefste Grund, warum ich Ihnen so schwer nur schreiben konnte. Ich schäme mich und betrachte Sie als die Gewissensinstanz. Denn es ist natürlich lächerlich, es auf die Universität schieben zu wollen. Es muss schon an mir selber liegen und die einzige ernstliche Entschuldigung, die ich habe, ist der trostlose Phantasiehorizont, in dem man heute in Deutschland leben muss und der mir jede Freiheit und jede echte Produktivität verschlägt. Wenn ich Ihnen sage, dass ich trotzdem mich in der Welt für nichts anderes als einen Komponisten halte und am liebsten alles andere zum Teufel jagte, so werden Sie das nur schwer glauben können. Trotzdem steht es so für mich selber - ob auch objektiv, vermag ich nicht abzuschätzen - und ich weiss sicher, dass es wieder ganz durchkommen wird. Ich kreise um nichts anderes, habe keine Freude, solange ich nicht wieder dabei bin, und kann es doch jetzt nicht forcieren. Wenn Sie sich in diese Situation hineindenken, dann werden Sie mich vielleicht milder beurteilen. - Um meine Sorgen noch abzumachen: die Publikation meiner Lieder wäre mir, wenn Sie sie wirklich für legitim halten, eine grosse Freude. Aber mit der U.-E. stehe ich so schlecht, dass ich ihr jedenfalls nicht entgegenkommen möchte, solange sie nicht mit dem Wunsch zu mir kommt. Eine andere Idee hatte ich: Doblinger. Dort ist z.B. eine Klaviersonatine von Otto J o k l erschienen, offenbar einem Schüler von Ihnen, die gestern im Rundfunk aufgeführt wurde (ich hielt den Einführungsvortrag). Also ist vielleicht der Verlag der Schule nicht gram und würde sich zu einem Liederheft von mir entschliessen. Was meinen Sie?" 4)


Theodor Wiesengrund Adorno ist keineswegs als durchschnittlicher Adlatus unter Bergs Schülerkreis zu betrachten, der mühsame Kopistenarbeiten, verschiedene Rennereien und zeitaufwendige Sekretärarbeiten für seinen Lehrer erledigte. Er zählt aber auch nicht zu dem von Berg zusammengestellten "Redaktionsteam", das mit Korrekturarbeiten, Kollationierungen und Kopistenarbeiten - wie es einst Berg für Schönberg tat - vertraut war. Wie Erwin Stein, Heinrich Jalowetz, Paul Pisk und Soma Morgenstern wurde seine intellektuelle Begabung mit Freude angenommen, um das Verständnis für die Wiener Schule in Form von wissenschaftlichen


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