Um diese Aussage nicht im Sinne einer Erzeugung von Klangvorstellung durch muskuläre
Aktivität misszuverstehen, ist es notwendig sich mit Sechenows Theorie näher zu befassen.
Er fasste sprachliches Denken ähnlich wie später Jean Piaget (z. B. 1954) und Aleksei
Nikolaevich Leont’ev (1958; 1959) als einen Entwicklungsprozess auf, in dem zuerst konkrete
(objektive) Assoziationen gebildet werden, die dann nach und nach durch »verbale
Symbolisierung« der Eindrücke immer komplexer werden. Nach seiner Theorie wird Denken
von in peripheren (sensorischen) und zentralen (zerebralen) Nervenbahnen fortgeleiteten
Reflexen begleitet, bei denen die äußeren Symptome, d. h. das sichtbare Verhalten
unterdrückt werden. Vergleichbar zu Rudolph Hermann Lotze führte er aus, dass
verschiedene sensorische Eindrücke durch den »Muskelsinn« (Kinästhesie) in eine
komplexe Impression von Objekten integriert werden, wodurch eine Vorstellung
der Wechselbeziehungen zwischen Objekten und Phänomenen in Raum und Zeit
entsteht. Ivan Mikhailovich Sechenow (1965) illustrierte seine Theorien mit einem
Beispiel der Entwicklung des sprachlichen Denkens im Kind, welches sich auch auf
musikalische Vorstellungen übertragen ließe: Zuerst lernt das Kind seine Umwelt mittels
verschiedenartiger Bewegungen verstehen. Diese werden im Geiste mit visuellen, taktilen,
auditiven und anderen Eindrücken assoziiert. Wenn das Kind sprechen lernt, so
entwickelt es die Fähigkeit diese Bewegungen zu kontrollieren. Es beginnt seine
Gedanken in Worten auszudrücken (der Reflex beschränkt sich jetzt nur noch auf die
Muskeln des Stimmapparates). In der Folge kann sich die Inhibition auch auf die
Lautäußerungen ausweiten. Es kommt zur Subvokalisation, die von Bewegungen des
Stimmapparates begleitet wird. Die Klangvorstellung der Worte ist assoziativ
mit kinästhetischen Empfindungen verknüpft. Die motorischen Prozesse werden
hier als Nebeneffekt bzw. notwendige Begleiterscheinung des Denkens aufgefasst.
Dementsprechend könnten sie auch als Indikator mentaler Aktivität interpretiert
werden.
In vielen physiologischen Untersuchungen sprachbezogener Vorstellungen fanden sich
Belege, dass bei neuen, unerwarteten Reizen häufig vermehrte körperliche Reaktionen
auftreten. Dies wird in der psychologischen Literatur gewöhnlich als Orientierungsreaktion
oder -reflex bezeichnet. Das Nachlassen der körperlichen Reaktionen bei wiederholter oder
andauernder Darbietung eines oder mehrerer Reize nennt man dagegen Gewöhnung oder
Habituierung bzw. Habituation. Beide Phänomene wurden auch in den Studien von
A. N. Sokolov (1972) nachgewiesen. Bei neuen, unvertrauten Aufgaben sowie beim Wechsel
eines Aufgabentyps zeigte sich ein Anstieg der elektromyographischen Aktivität in der
Sprechmuskulatur, die dann im Zeitverlauf der sprachbezogenen Vorstellungen
wieder abnahm. Auch bei einer Messreihe mit mehreren Aufgaben desselben Typs
(z. B. bei Multiplikationen oder Additionen ein- bis zweistelliger Zahlen) offenbarte
sich nach einem anfänglichen Anstieg der EMG-Werte bei den darauf folgenden
Aufgaben ein gradueller Rückgang der Muskelspannung. Nach Sokolov deutet eine
Reduktion dieses Aktivitätsniveaus auf eine starke Vertrautheit mit den mentalen
Operationen hin, d. h. der Automatisierung der Lösungen bzw. Lösungswege. Im
Extremfall erfordert die
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