- 25 -Schmidt, Patrick L.: Interne Repräsentation musikalischer Strukturen 
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Centralorgane Erregungen erfahren, deren Differenzen bezüglich der Stärke und Form jenen Unterschieden der Töne proportional sind. Nachdem jedoch die Tonvorstellungen einmal entstanden sind, wird unsere geistige Thätigkeit, welche die verschiedenen Eigenschaften derselben unter einander vergleicht und sie demgemäss in eine Reihe ordnet, gerade hierin einer Unterstützung durch körperliche Mitwirkung weder fähig noch bedürftig sein. Denn das Material, welches sie vergleichen soll, besitzt sie in der Erinnerung; um aber sich bewusst zu werden, dass ein Ton um ein bestimmtes Intervall höher sei als der andere, ist sie nothwendig ganz auf sich selbst angewiesen, da alle körperlichen Erregungen ihr doch stets nur entweder beide Töne, oder irgend eine mittlere resultierende Erregung zuführen könnten (Lotze 1852, S. 101).

Demnach spielen also Bewegungen der Kehlkopfmuskulatur zumindest beim Erlernen der Fähigkeit der Differenzierung zwischen verschiedenen Tonhöhen eine Rolle. Dies setzt implizit den Einsatz der Singstimme voraus. Auch Hermann von Helmholtz sah eine Analogie zwischen der Wahrnehmung von Tonhöhen und räumlichen Aspekten der Außenwelt, in der sich der Mensch bewegt (vgl. 1877, S. 596f). Desgleichen glaubte Wilhem Wundt, dass die Sinnesempfindung nur Attribute der Qualität und Intensität beinhaltet, wohingegen räumliche Eigenschaften der Sinneserfahrung durch die Motorik beigesteuert werden (1898/1921, vgl. S. 389).3

3 Auf die in diesen Aussagen enthaltene Theorie der Kodierung abstrakter räumlicher Distanzen wie z. B. Tonhöhen bzw. Tonintervalle durch kinästhetische Information soll in einem späteren Kapitel näher eingegangen werden.

Die unter anderem bei musikalischen Klangvorstellungen auftretenden motorischen Prozesse werden nach Rudolph Hermann Lotze als Epiphänomen assoziativer Verknüpfung betrachtet:

Nicht allein die nervöse Erregung wird eine bestimmte Vorstellung bedingen, sondern auch die Vorstellung, im Verlaufe der Erinnerung wieder auftauchend, wird zurückwirkend jenen Nervenzustand zu reproduciren streben, von dem sie selbst in der sinnlichen Wahrnehmung erregt wurde. Und so mögen allerdings, wie wir früher bereits andeuteten, schwache Mitoszillationen der Centralorgane den psychischen Vorstellungsverlauf überall begleiten, doch nicht als seine Ursachen, sondern als seine Folgen […] (Lotze 1852, S. 474).

Auch nach Ansicht von Carl Stumpf (1883) folgen die motorischen Prozesse lediglich den klanglichen Repräsentationen. Dies bestätigten ihm sechs »gute Musiker« und Wissenschaftler in einer von ihm durchgeführten Befragung (Band I, S. 157–159). Eine ähnliche Meinung vertrat auch Otto Abraham (1901).

Die zuletzt vorgebrachten Ausführungen von R. H. Lotze erinnern an eine Theorie von Ivan M. Sechenow. Der russische Neurophysiologe und Entdecker der »zentralen Reflexhemmung« gilt zusammen mit Iwan Petrowitsch Pawlow als Begründer der so genannten Reflextheorie. Sechenow (1965) äußerte sich folgendermaßen zu musikalischer Klangvorstellung:

In any case, I am unable to sing a song mentally, I always sing it with my muscles, and only then the sounds are reproduced in my memory (Sechenow 1965, S. 74).4

4 In einer weiteren Übertragung aus dem Russischen liest sich Sechenows Aussage allerdings folgendermaßen: »At any rate, I am unable to sing to myself a song mentally in sounds alone; I always sing it with muscles, and then a memory of the sounds seems to appear« (zitiert in Sokolov 1972, S. 4). Man beachte das Wort »alone« und die insgesamt vorsichtigere Ausdrucksweise.


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