- 61 -Schläbitz, Norbert: Mit System ins Durcheinander  
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heißen: Institutionen bleiben lebendig, indem sie jeweils der ihrer Zeit einen Schritt vorauseilenden »ars nova« alsbald doch nacheilen, sie in das Netzwerk der Traditionen integrieren, und die eigenen Sprachregelungen novellieren. Dabei verändern sich folglich auch musikalische Regel- und Sprachwerke.

Seitdem allerdings die symbolische Codierung von Musik nicht mehr die führende Rolle als Speichermedium innehat, sondern die Aufzeichnung des Realen an ihre Stelle getreten ist, haben die Institutionen weitgehend immer noch keine adäquate Sprache zur Beschreibung der Musik des Realen gefunden und so den Anschluss an die gegenwärtige »ars nova« – so macht es den Eindruck – mittlerweile verloren, und es scheint zuweilen, dass die »ars nova« der Gegenwart dem institutionellen Denken schon fast zu weit – uneinholbar(?) – enteilt ist. Der weitgehende Verbleib im Regelkanon der Intervalle spiegelt fast schon symptomatisch diese Situation in musikwissenschaftlichen Institutionen, die sich an weiteren Problemfeldern festmachen lässt. Das drückt sich gleichfalls in Aufnahme-, Ausbildungs- und Prüfungsordnungen für Absolventen von Hochschulen und Universitäten aus. Die Regel sieht den in der traditionellen Analyseschrift Kundigen vor. Dem ist auch zuzustimmen und daran nichts zu deuteln, problematisch ist es allerdings, dass musikalisch Begabten ohne diese Kenntnisse der Eingang in das Studium schwer, wenn nicht unmöglich gemacht wird und Abschlüsse praktisch ausgeschlossen sind. Damit wird nicht nur Einzelnen Lebenschancen genommen, sondern der Musik ganz allgemein notwendiges Erneuerungspotential entzogen, da Musik – nach ganz anderen »Rezepten« gestrickt – gegebenenfalls zur Pionierarbeit ganz anders und trefflicher sich eignet. Beispiele aus der Unternehmenskultur liefernd, schreibt Mihai Nadin: »Das gilt für viele Pioniere, die ihre Werkzeuge besser beherrschten als ihre Füllfederhalter. Sie lasen in der Natur mit mehr Weltverständnis, als manche Universitätsstudenten in ihren Büchern lesen« (Nadin 1999: 47). Und Schönberg berichtet Vergleichbares in seiner Harmonielehre über sein eigenes Schaffen, das er ganz zentral von Formgefühl und Gehör und nicht von Gebote und Verbote aussprechenden Regelwerken abhängig fühlte: »Ich habe dabei vielleicht manches erfunden, was es schon gegeben hat, aber ich habe es erfunden und nicht erlesen« (Schönberg 2001: 490). Als einzige verbindliche Gesetzesgrundlage für den Schaffensprozess lässt er gelten: den Einfall und gerade nicht das Handwerk. Über die Regeln und Anweisungen des Kompositionshandwerks schreibt er daher: »Kann es der Schüler ohne die Anweisungen besser, dann mache er es ohne sie« (ebd.: V). So mag auch mancher Student, der der Notenwelt unkundig ist, die Welt des Rauschens gegebenenfalls so zu sortieren, dass die Musikgeschichte der Fünf-Linien-Welt nur untergründig mitschwingt und der Beginn einer interessanten Neuen Musik markiert ist. Im kompetenten Lesen des Rauschen des Realen mögen sich so Musiken offenbaren, die in Partituren nicht verzeichnet sind und Lesekundigen von Partituren nicht in den Sinn kommen.14

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»Musik setzt eine ungeheure Ausbildung voraus« (Mahnkopf 1998: 64), schreibt Claus-Steffen Mahnkopf und daran ist auch nichts zu deuteln. Die Frage ist allerdings, welche Ausbildungsinhalte ein Musikstudium beinhalten sollte? Auch der ansonsten der eigenen Profession sehr kritisch gegenüber eingestellte Mahnkopf denkt in seiner Streitschrift zur Musik des 21. Jahrhunderts Ausbildung in den tradierten Kategorien. Dass eine professionelle Ausbildung auch auf einer Schulung im Instrument »Plattenspieler« aufbauen und so ganz andere professionelle Techniken abverlangen könnte als das Klavierspiel, ist den Ausführungen Mahnkopfs nicht abzulesen. Vor das Musizieren ist die langfristige Übungsarbeit gesetzt: beim Spiel mit dem Klavier genauso wie bspw. beim Spiel mit Plattenspielern. Die Musikausbildung ließe sich also ergänzen und hieße institutionelle Professionalität auch auf neuen Feldern des Musizierens auszubilden. Mit einer solchen Erweiterung oder Ergänzung wäre auch das anspruchsvolle Gebiet des Komponierens ergänzungsbedürftig. Komponieren hieße dann, eine Kompositionsschulung auf den Weg zu bringen, die die Techniken des Komponierens der Vergangenheit auf keinen Fall vergisst, aber deren dominierenden Stellenwert relativiert. »Komponieren gar setzt umfangreiche technische Fähigkeiten voraus« (ebd.). Und auch hier wäre zu fragen, welche Techniken zu schulen wären?: Muss man in jedem Falle Fugen, Symphonien, Sonaten u.a. komponieren können, muss man den Kontrapunkt kennen oder Stimmführungsregeln sowie Regeln zur Harmonisierung, muss man das große Orchester bedienen können, um Musik, die den Intellekt nicht vergisst oder vernachlässigt, schreiben zu können? Die Frage ist rhetorisch gemeint und die Antwort will lauten: Nicht in jedem Fall. Das kommt ganz darauf an, welchem musikalischen Weltbild man folgt und welcher Musik zur Gestalt verholfen werden soll. Vorstellbar wäre Ausbildung, die sich in unterschiedliche Stränge aufspaltet: In einen, der verfährt wie bisher. Und in einen, der sich aktuellen Musizierpraxen öffnet (Stichwort: Schallplattenspieler, Computer) und dabei nicht zentral auf die symbolisch codierte Notenwelt setzt und in Prüfungen diese daher auch vernachlässigen kann. Ein Pianist muss sein Instrument beherrschen und seine Spieltechnik ist eine, die sich als ganze versteht, wie Mahnkopf festhält. Das Ganze umfasst dann die Technik des Klavierspiels in seinen vielen Schattierungen, was komponierte Klaviermusik differenziert in Szene setzen lässt. Aber eben auch nur Klaviermusik: Mehr wäre wohl auch zu viel verlangt. Schon an den Techniken des Geigers dürften die meisten Klavierspieler scheitern – wie auch anders. Vergleichbares gilt auch für die Techniken des Komponierens. Ein Ganzes sollte sich hier auch auf ein anderes Spezielles beziehen können oder dürfen. Und das Spezielle muss nicht mehr zwingend in der Welt der Noten liegen oder mit ihr verbunden sein. Der Klavierspieler übt Klavier, und der Geiger übt Geige. Und der eine wie andere prägt auf seinem Gebiet eine instrumententypische Technik aus, die nach Möglichkeit nach Perfektion strebt. Auch die Welt des Komponierens kann sich entsprechend sortieren: In eine umfassende Ausbildung und so eine Ganzheit im Sinne der Tradition und in eine Ganzheit, die nach Perfektion strebt beim Gestalten einer Musik, die der tradierten Kompositionsprinzipien und tradierten Notenlehre nicht bedarf. Mahnkopf hat mit seiner Aussage recht, dass »Musik [. . . ] – allen Verfechtern einer ›demokratischen Kreativität‹ zum Trotz – immer eine Angelegenheit derer [ist], die das Vermögen dazu besitzen« (ebd.: 65). Ein großes Missverständnis ist es, Musikalität mit ausgebildeter Kompetenz in Notesatzlehre u.Ä. gleichzusetzen bzw. eine solche Kompetenz zwingend vorauszusetzen, damit Musikalität sich kompetent auszudrücken verstehe. Das eine hat mit dem anderen nur wenig und wenn dann nur insofern zu tun, als dass Prinzipien zur Musikgestaltung ein Medium sind, im dem sich Musikalität ausdrücken kann, aber nicht unbedingt muss. Musikalität kann sich also unbenommen dessen auch ein anderes Medium suchen und darin sich ausdrücken – und vielleicht im Sinne der angestrebten Musik wesentlich besser. Nicht jeder kann komponieren (vgl. ebd.), darin hat Mahnkopf recht, aber nicht jeder, der es kann, muss so komponieren können, wie die Väter der Vergangenheit, um qualitativ gute oder anders ausgedrückt: interessante Musik zu schreiben.
Mit anderen Worten: Auch in dem Fehlen von Ausnahmereglungen für
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