- 60 -Schläbitz, Norbert: Mit System ins Durcheinander  
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der Analyse spiegelt demnach eine spezifische zeitbedingte Ästhetik und wird problematisch gehandhabt, wenn die vergangene Ästhetik einfach bedenkenlos einer neuen Musik übergestülpt wird, die ästhetisch ganz anders grundiert sein kann.

Es bedarf auch hier zunächst der Prüfung, ob das Analysemittel überhaupt Tauglichkeit, bezogen auf die Musik, auf die es angewendet werden soll, beweist. Welchen Sinn und Zweck machte es eigentlich, eine wesentlich auf Klang und Rhythmus basierende Musik funktionsharmonisch zu qualifizieren? Eine solche Untersuchung kann unter einer gegebenen Fragestellung ggf. Sinn machen, sie taugt nicht ansatzweise dazu, das Urteil über die prinzipielle Qualität und den ästhetischen Wert einer solchen Musik abzugeben. Interessiert den Untersuchenden die Klangstruktur – der Sound – kann es völlig irrelevant sein, Akkordstrukturen und Melodielinien zu analysieren, sondern es mögen die Klangeigenschaften unterschiedlicher Synthesizer wie Sampler zur Untersuchung anstehen, wie sich Mischungsverhältnisse neu regulieren, welche Syntheseverfahren zur Anwendung gekommen sind u.a.m. Gegebenenfalls macht das Herleiten der Gestaltungsgeschichte einer bestimmten Musik mehr Sinn als jede tradierte Analysearbeit.

Kurz und gut: Aus dem zielsetzenden Motiv leitet sich das Analyseinstrumentarium ab. Wer Musik (welcher Art auch immer) zu prüfen und qualifizieren sucht, hat im Vorfeld auch das gewählte Analyseinstrumentarium auf seine Relevanz hin zu prüfen. Wird dieser Schritt unterlassen, haben ermittelte Qualifizierungen von Musik kaum wirklichen Aussagewert. Als einzig »bedeutungsvolle« Aussage könnte man dann bestenfalls feststellen, dass eine so untersuchte Gegenwartsmusik – wäre sie im 19. Jahrhundert (ersatzweise im beginnenden 20. Jahrhundert) so veröffentlicht worden – nicht mit einer wohlwollenden Kritik hätte rechnen dürfen: eine Erkenntnis, die am Rande der Belanglosigkeit sich bewegt, da dieser Aussagegehalt für fast jede Musik – transportiert in längst vergangene Zeiten – gilt. Und fände auch eine aktuelle Musik nach Maßstäben alter Zeiten Gnade vor der Kritik, der Anlass einer Analyse ist in der Regel ein anderer, was einen solchen Erkenntnisgrund und –wert wieder nichtig macht.

Was im musikwissenschaftlichen Diskurs heute fehlt, ist ein neues oder ein modifiziertes allgemeinverbindliches, zeitgemäßes Analyseinstrumentarium. Man könnte auch so sagen: Der unüberhörbare Missklang, den einst der Schritt von der »ars antiqua« zur »ars nova« begleitete, pflanzt sich fraglos bis in die Gegenwart fort. Während dieser Missklang ganz allgemein als Indiz für Veränderung und das sich vom Alten Abgrenzende sich begebende »Neue« gelten sowie produktiv gewertet werden kann, mag sich in dem Missklang heute zuweilen eine veränderungsunwillige, konservativ-bewahrende Haltung spiegeln. Diese Haltung, die den Schritt auf das Neue verweigert, trägt destruktive Züge, die Anlass zur Sorge bieten, da ihr die Bereitschaft, sich gegenwärtigen musikalischen Tendenzen zu öffnen, nicht innewohnt. Diese Destruktion betrifft so weniger die Musik als solche, die allen negativen Begleittönen zum Trotz ihren Weg gehen wird, sondern die Institutionen, aus denen heraus – die eigenen Kriterien nicht hinreichend selbstkritisch überdenkend und weiterentwickelnd – Kritik geäußert wird. Das institutionelle Denken der Tradition folgte – um das Beispiel der »ars nova« des 14. Jahrhunderts noch einmal zu bemühen – alsbald derselben, vereinnahmte und institutionalisierte diese und fand dafür in der Rückschau Worte der Anerkennung. In der Verallgemeinerung will dies


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