- 59 -Schläbitz, Norbert: Mit System ins Durcheinander  
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Instrumentarium wesentlich noch herleitet, können kein Maßstab bei der Qualifizierung von Gegenwartsmusik sein. Sie müssen ergänzt oder gar ersetzt werden durch andere. Unterlässt man dies und nutzt es ungeprüft, wird das Analyseinstrumentarium implizit praktisch für sakrosankt und überzeitlich gültig erklärt, da es nicht in der Kritik steht. Das wäre in etwa so, als ob im Rahmen der Literaturwissenschaft die aus ihrer Zeit heraus zu verstehende dogmatische Regelpoetik des 18. Jahrhunderts nach wie vor unkritisch für vorbildhaft erachtet würde und die Lyrik aller Folgejahrhunderte danach und folgerichtig vernichtend qualifiziert würde.

Wird danach gefragt, wie man ein populäres Musikstück denn anders als bisher im Sinne der Tradition analysieren wolle, kann die Antwort auf eine solche Frage nur in eine weitere Frage münden: Woraufhin analysiert man und wozu? Möchte man eine rauschende Musik bspw. auf der Basis der funktionsharmonischen Analyse nach Riemann (1849–1919) untersuchen, ist die Frage, warum man denn dies tue und auf welches Ziel hin man untersuche, ungemein relevant, denn je nach dem, welche Motive eine Untersuchung leiten, werden Urteile im Kontext selbstkritisch. Schon in der Beantwortung dieser Frage wird das leitende Weltbild des Analysten aufleuchten.

Werden dagegen Gegenwarts- und andere Musik ohne weitergehende Fragestellungen mit dem tradierten Analyseinstrumentarium qualifiziert, entfällt jede Selbstkritik und die Mittel der Analyse erscheinen opak und zeitlos gültig. Aus der Geschichte Überliefertes kann hilfreich bei der Prüfung von Gegenwartsgeschehen sein. So werden bspw. auch Texte der Philosophen unermüdlich immer wieder auf die Gegenwart bezogen. Das geschieht aber im Zuge der Prüfung jener Texte selbst (was kann uns Plato zu diesem und jenem Aspekt heute noch sagen? Sind Gedankenwelten dem heutigen Erkenntnisstand noch angemessen? Und wenn ja: Lassen sich bestimmte Ideen überhaupt auf heutige Situationen übertragen und wie?). Die Qualifizierung der Gegenwart wird durch die reflektierte Auseinandersetzung mit und Neuqualifizierung von überkommenen Texten vollzogen. In der Zeit erworbene Techniken, niedergelegte Schriften und aus Ideen erwachsene Kulturgüter haben so ihren nach wie vor unbestreitbaren Wert, der aber von Fall zu Fall neu ausgehandelt wird. Das aber geschieht oft genug nicht, wenn (gegenwärtige) Musik analysiert wird. Dabei wird das Analyseinstrumentarium der Vergangenheit einfach benutzt, so als ob es nicht ebenso in der Zeit verankert wäre und seine Zeit gehabt hätte, aber nicht geprüft und diskutiert ob seiner Gegenwartsrelevanz. Das Mittel


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