weitere gleichberechtigt hinzu, und schon konnte
Musik kaum mehr an musikgestaltenden Prinzipien der Vergangenheit gemessen
werden. Aber immerhin: die Welt der Partituren war noch ordentlich gefügt und
Objekte zu erkunden. Mit den technischen Medien, die die symbolische Codierung
zunehmend überflüssig machten, traten die Notenmusik und die Welt der Partituren
allmählich in die zweite Reihe. Die Formel 8+4 ist nun erweitert um das nunmehr
speicherbare, nicht unerhebliche Restrauschen des Realen, was Notenweltformen
und -formeln als maßgebliche Eichinstrumente, ob Musik als zu leicht oder
anders befunden wird, untauglich macht und das Objekt aus dem Stillstand
in die Bewegung entlässt. Die Musik sucht immer seltener den Umweg über
das Speicherarchiv Schrift und immer öfter gleich das klingende Ergebnis mit
Speicherung auf Datenträgern. Wer analysiert, hat mit dem Verlust des Zentrums
Partitur keinen fixierten Bezugspunkt mehr, über den zu verständigen wäre. Ein
neuer Halt ist mit dem neuen Zentrum Digitalarchiv bislang nicht in Sicht:
Aufgrund dessen wird am
Supplement Schriftmusik mit seinen stummen und daher
vielsagenden Zeichenwelten bei aller Bewegungsdynamik einer ins Rauschen geratenen
Musik festgehalten. Eine Vielfalt aktueller Musik nun, die sich auf den Klang
besinnt und gleich zu klingen beginnt, steht dem Auge fern. »›Wissen‹ ist
etymologisch gleichbedeutend mit ›gesehen haben‹« (Welsch
1996: 239), und
auch die Wissenschaft der Musik, die eigentlich für das Hören und das Ohr
verantwortlich zeichnet, vertraut weiterhin dem Auge mehr denn dem Ohr.
Insofern ist es mit der allgemeinen Relativierung der Bedeutung von Partituren
im 20. Jahrhundert erklärbar, dass Musikwissenschaft sich vornehmlich mit
einem beschäftigt: mit der Vergangenheit, die die nichtschriftliche Gegenwart
der Musik dabei gerne ausklammert, ja zuweilen wenig mit ihr anzufangen
weiß.
Die Problematik, die sich aus einem Analyseinstrumentarium einerseits ergibt, das
einst aus Notenwelten abgeleitet wurde, und andererseits einer wieder schriftlosen Musik,
die implizit oder explizit gleichwohl auch aus dem Bewusstsein der Schrift geschaffen
wurde, ist ganz offensichtlich: Oftmals wird eine der Notenschrift fernstehende Musik der
Gegenwart, die nach einem vollkommen anderen Musik-, Klang- und Hörverständnis
gestaltet wurde, nach Kriterien der Schrift beurteilt. Das lässt Urteile dann
entsprechend ausfallen. Und solche Urteile scheinen, wenn man bspw. dezidiert auf
mangelnde Entwicklungslinien im Gang eines Musikstückes oder auf recht schlicht
gefügte Akkordverbindungen hinweisen kann, sogar »objektiv« begründet zu
sein, obwohl sie bei genauerem Hinsehen praktisch völlig dem eigenen Weltbild
folgenden, subjektiven Verständnis geschuldet sind. Ein plakatives Beispiel nicht
scheuend: Wer nur Fugen hört, wird bei Cage jegliche Regel vermissen und
klagen, wer nur Cage hört, wird in Fugen nur Redundanzen orten und aus
Langeweile Fugen verwerfen. Ein Traditionalist wird analytisch klar und »objektiv«
belegen können, woran es Cages Musik mangelt. Ein Erneuerer umgekehrt
wird mit der gleichen Klarheit den Mangel an Information bei Bach und seinen
Fugen und den Hang zur Redundanz belegen können. Ein jeder spricht klar und
»objektiv«, und doch sind es in dem ein und anderen Falle aus dem subjektiven
Weltbild heraus gefällte Urteile. Genau so verhält es sich, wenn Populäre Musik
begutachtet wird: Subjektive Befindlichkeiten prägen objektive Urteile, was dort
– wo aus dem Horizont der Tradition beleuchtet wird – besonders stark ins
Gewicht fällt. Die Qualitätskriterien des 19. Jahrhunderts, aus denen sich des
Analysten