- 58 -Schläbitz, Norbert: Mit System ins Durcheinander  
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weitere gleichberechtigt hinzu, und schon konnte Musik kaum mehr an musikgestaltenden Prinzipien der Vergangenheit gemessen werden. Aber immerhin: die Welt der Partituren war noch ordentlich gefügt und Objekte zu erkunden. Mit den technischen Medien, die die symbolische Codierung zunehmend überflüssig machten, traten die Notenmusik und die Welt der Partituren allmählich in die zweite Reihe. Die Formel 8+4 ist nun erweitert um das nunmehr speicherbare, nicht unerhebliche Restrauschen des Realen, was Notenweltformen und -formeln als maßgebliche Eichinstrumente, ob Musik als zu leicht oder anders befunden wird, untauglich macht und das Objekt aus dem Stillstand in die Bewegung entlässt. Die Musik sucht immer seltener den Umweg über das Speicherarchiv Schrift und immer öfter gleich das klingende Ergebnis mit Speicherung auf Datenträgern. Wer analysiert, hat mit dem Verlust des Zentrums Partitur keinen fixierten Bezugspunkt mehr, über den zu verständigen wäre. Ein neuer Halt ist mit dem neuen Zentrum Digitalarchiv bislang nicht in Sicht: Aufgrund dessen wird am Supplement Schriftmusik mit seinen stummen und daher vielsagenden Zeichenwelten bei aller Bewegungsdynamik einer ins Rauschen geratenen Musik festgehalten. Eine Vielfalt aktueller Musik nun, die sich auf den Klang besinnt und gleich zu klingen beginnt, steht dem Auge fern. »›Wissen‹ ist etymologisch gleichbedeutend mit ›gesehen haben‹« (Welsch 1996: 239), und auch die Wissenschaft der Musik, die eigentlich für das Hören und das Ohr verantwortlich zeichnet, vertraut weiterhin dem Auge mehr denn dem Ohr. Insofern ist es mit der allgemeinen Relativierung der Bedeutung von Partituren im 20. Jahrhundert erklärbar, dass Musikwissenschaft sich vornehmlich mit einem beschäftigt: mit der Vergangenheit, die die nichtschriftliche Gegenwart der Musik dabei gerne ausklammert, ja zuweilen wenig mit ihr anzufangen weiß.

Die Problematik, die sich aus einem Analyseinstrumentarium einerseits ergibt, das einst aus Notenwelten abgeleitet wurde, und andererseits einer wieder schriftlosen Musik, die implizit oder explizit gleichwohl auch aus dem Bewusstsein der Schrift geschaffen wurde, ist ganz offensichtlich: Oftmals wird eine der Notenschrift fernstehende Musik der Gegenwart, die nach einem vollkommen anderen Musik-, Klang- und Hörverständnis gestaltet wurde, nach Kriterien der Schrift beurteilt. Das lässt Urteile dann entsprechend ausfallen. Und solche Urteile scheinen, wenn man bspw. dezidiert auf mangelnde Entwicklungslinien im Gang eines Musikstückes oder auf recht schlicht gefügte Akkordverbindungen hinweisen kann, sogar »objektiv« begründet zu sein, obwohl sie bei genauerem Hinsehen praktisch völlig dem eigenen Weltbild folgenden, subjektiven Verständnis geschuldet sind. Ein plakatives Beispiel nicht scheuend: Wer nur Fugen hört, wird bei Cage jegliche Regel vermissen und klagen, wer nur Cage hört, wird in Fugen nur Redundanzen orten und aus Langeweile Fugen verwerfen. Ein Traditionalist wird analytisch klar und »objektiv« belegen können, woran es Cages Musik mangelt. Ein Erneuerer umgekehrt wird mit der gleichen Klarheit den Mangel an Information bei Bach und seinen Fugen und den Hang zur Redundanz belegen können. Ein jeder spricht klar und »objektiv«, und doch sind es in dem ein und anderen Falle aus dem subjektiven Weltbild heraus gefällte Urteile. Genau so verhält es sich, wenn Populäre Musik begutachtet wird: Subjektive Befindlichkeiten prägen objektive Urteile, was dort – wo aus dem Horizont der Tradition beleuchtet wird – besonders stark ins Gewicht fällt. Die Qualitätskriterien des 19. Jahrhunderts, aus denen sich des Analysten


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