Sicherlich wäre an dieser Stelle, um die Eisenbahn-Programmatik noch zu retten, die
Annahme möglich, die Eisenbahn als medientechnisches Dispositiv im Sinne Foucaults
zu begreifen. »Was ich unter diesem Titel festzumachen versuche ist erstens ein
entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen,
reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche
Aussagen, philosophische, moralische oder philantrophische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebenso
wohl wie Ungesagtes umfaßt. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist
das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann« (Foucault 1978: 119f.).
Die Eisenbahn war ein neues, faszinierendes Gefährt des 19. Jahrhunderts, das die Diskurse
bevölkerte und gegebenenfalls immanent als Thema noch dort gegenwärtig war, wo Menschen
sich in einem anderen Diskurs exklusiv wähnten (Honeggers mathematisch-musikalische
Leitidee, untergründig unterwandert vom Diskurse leitenden Dispositiv als Netzwerk, in
das die Medialität Eisenbahn mit ihren Effekten verstrickt war). Künstlerische Belege
für die von der Eisenbahn ausgehende Faszination gibt es mannigfaltige: von Lyonel
Feiningers Eisenbahnbildern, über Gerhart Hauptmanns Novelle »Bahnwärter Thiel« oder
seinem Gedicht »Im Nachzug« zu Gottfried Kellers »Zeitlandschaft«, den parabelhaften
Reflexionen eines Fritz Mauthner (»Die Eisenbahn«), den Jugenderinnerungen eines
Peter Roseggers, der über seine Erstbegegnung mit der Eisenbahn berichtet, bis hin zu
Theodor Fontanes »Brücke am Tay«, um nur einige, wahrlich wenige Beispiele zu nennen,
die um zahllose, weitere ergänzt werden könnten. Im Unterschied zu jenen bewussten
Thematisierungen und Reflexionen wäre durchaus die These zu vertreten, dass bei Honegger
als Effekt der Eisenbahn die Raumtötungsmetaphorik, der Projektilcharakter und die
Beschleunigungsproblematik sich in einem anderen Medium, dem der Musik, offenbarten: Die
Eisenbahn als unbewusstes Gewissen der Gesellschaft, von der nicht so recht zu wissen war, ob
sie zum Guten oder zum Schlechten tendierte, da die neuen, endgültig das menschliche Maß
sprengenden Geschwindigkeitsgötter, die man gerufen hatte, der menschlichen Beherrschung
mit unabsehbaren Folgen sich wohlmöglich entzogen. So spiegelt sich in der Eisenbahn
Anziehung und Abstoßung gleichermaßen, eine Erotik, der man sich nicht entziehen noch
sie kontrollieren kann. »Besonders die Lokomotive, die sich in der traurigen Wirklichkeit
oft genug als Tötungsmaschine erwies, erschien als taugliches Instrument der Vergeltung,
als gesellschaftliches Über-Ich, das die Verbrechen gegen Menschen und Götter bestrafte«
(Gay 1999: 320). Die Möglichkeit der Selbstthematisierung des medientechnischen Dispositivs
bei Honeggers »Pacific 231« zu untersuchen böte einen Forschungsansatz, der meines
Wissens bislang noch brach liegt. Gleichwie – für den hier diskutierten Fall gilt: Mit Bezug
auf das Dispositiv, das Gesagtes und Nicht-Gesagtes – wiewohl Wirkendes – miteinander
verklammert und aufeinander bezieht, ist die Wahrheitsformel in ein bewegliches Netzwerk
von Beziehungen überführt und so als selber bewegliches Gut verortet und darin aufgelöst.
Was allein zählt, sind wiederum zeitbedingte Wirkgefüge (Dispositive), die Gedankenprozesse
programmatisch leiten, mitnichten aber vom Weltlichen losgelöste, zeitlose Ideen.
|