- 55 -Schläbitz, Norbert: Mit System ins Durcheinander  
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die Bezeichnung der schweren Schnellzuglokomotiven« (ebd.: 115).12
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Sicherlich wäre an dieser Stelle, um die Eisenbahn-Programmatik noch zu retten, die Annahme möglich, die Eisenbahn als medientechnisches Dispositiv im Sinne Foucaults zu begreifen. »Was ich unter diesem Titel festzumachen versuche ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philantrophische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebenso wohl wie Ungesagtes umfaßt. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann« (Foucault 1978: 119f.). Die Eisenbahn war ein neues, faszinierendes Gefährt des 19. Jahrhunderts, das die Diskurse bevölkerte und gegebenenfalls immanent als Thema noch dort gegenwärtig war, wo Menschen sich in einem anderen Diskurs exklusiv wähnten (Honeggers mathematisch-musikalische Leitidee, untergründig unterwandert vom Diskurse leitenden Dispositiv als Netzwerk, in das die Medialität Eisenbahn mit ihren Effekten verstrickt war). Künstlerische Belege für die von der Eisenbahn ausgehende Faszination gibt es mannigfaltige: von Lyonel Feiningers Eisenbahnbildern, über Gerhart Hauptmanns Novelle »Bahnwärter Thiel« oder seinem Gedicht »Im Nachzug« zu Gottfried Kellers »Zeitlandschaft«, den parabelhaften Reflexionen eines Fritz Mauthner (»Die Eisenbahn«), den Jugenderinnerungen eines Peter Roseggers, der über seine Erstbegegnung mit der Eisenbahn berichtet, bis hin zu Theodor Fontanes »Brücke am Tay«, um nur einige, wahrlich wenige Beispiele zu nennen, die um zahllose, weitere ergänzt werden könnten. Im Unterschied zu jenen bewussten Thematisierungen und Reflexionen wäre durchaus die These zu vertreten, dass bei Honegger als Effekt der Eisenbahn die Raumtötungsmetaphorik, der Projektilcharakter und die Beschleunigungsproblematik sich in einem anderen Medium, dem der Musik, offenbarten: Die Eisenbahn als unbewusstes Gewissen der Gesellschaft, von der nicht so recht zu wissen war, ob sie zum Guten oder zum Schlechten tendierte, da die neuen, endgültig das menschliche Maß sprengenden Geschwindigkeitsgötter, die man gerufen hatte, der menschlichen Beherrschung mit unabsehbaren Folgen sich wohlmöglich entzogen. So spiegelt sich in der Eisenbahn Anziehung und Abstoßung gleichermaßen, eine Erotik, der man sich nicht entziehen noch sie kontrollieren kann. »Besonders die Lokomotive, die sich in der traurigen Wirklichkeit oft genug als Tötungsmaschine erwies, erschien als taugliches Instrument der Vergeltung, als gesellschaftliches Über-Ich, das die Verbrechen gegen Menschen und Götter bestrafte« (Gay 1999: 320). Die Möglichkeit der Selbstthematisierung des medientechnischen Dispositivs bei Honeggers »Pacific 231« zu untersuchen böte einen Forschungsansatz, der meines Wissens bislang noch brach liegt. Gleichwie – für den hier diskutierten Fall gilt: Mit Bezug auf das Dispositiv, das Gesagtes und Nicht-Gesagtes – wiewohl Wirkendes – miteinander verklammert und aufeinander bezieht, ist die Wahrheitsformel in ein bewegliches Netzwerk von Beziehungen überführt und so als selber bewegliches Gut verortet und darin aufgelöst. Was allein zählt, sind wiederum zeitbedingte Wirkgefüge (Dispositive), die Gedankenprozesse programmatisch leiten, mitnichten aber vom Weltlichen losgelöste, zeitlose Ideen.
Und so wie hier das verortete Programm Gedankenleistungen und Musikvorstellungen leitete, ist jede Musik (funktional oder autonom gedacht) und deren Analyse von Vorannahmen – ja Programmen – geprägt. So wie eine Musik von Honegger nach dem Programm »Lokomotive« untersucht wurde und auch noch wird,13
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Kürzlich noch in dem essayistischen Buch »Zwischentöne. Musikgeschichten aus dem 20. Jahrhundert« (Wolff/Diedrichsen 2002: 52–57), in dem die gegebene Begeisterung Honeggers für Eisenbahnen hergeleitet wird und in dem es sodann heißt: »Geschildert wird im movement symphonique das allmähliche Beschleunigen der Lokomotive bis hin zu ihrer nächtlichen Fahrt mit Höchstgeschwindigkeit in der Mitte des Stückes; gegen Ende verlangsamt sie und kommt im Bahnhof zum Stillstand« (ebd.: 53). Die Autoren verweisen allerdings darauf, dass Honegger dieses Programm einst selber im Kommentar zu einem Konzert mal so angab und ausführte und er später dieses zurückzog und es als absolute Musik klassifizierte. Interessant ist aber weiter, wie sehr dieses einmal anerkannte Programm rezipierende, interpretierende Gedankengänge führt. So heißt es dann weiter: »Motorik und Schwungrad, Rotation und Anwachsen des Tempos werden mit schneidender Polyrhythmik und aggressiven Klängen förmlich greifbar. Besonders die Phase der ekstatischen Fahrt durch die vom Lokomotivenpfiff zerrissene Stille ist von bemerkenswerter Expressivität« (ebd.). Im Medium Sinn wird die Form Programmmusik und im Medium Programmmusik die Form Lokomotive anschlussfähig weiter aktualisiert.
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