- 44 -Schläbitz, Norbert: Mit System ins Durcheinander  
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Wahrhaftigkeit spiegeln. (Im weiteren Verlauf der Arbeit wird darauf noch genauer einzugehen sein.) Aus dem Abstand heraus wird der prinzipielle Wandel erkannt und die Invarianz des Klassischen zum Pfeiler, der den Wandel ertragen wie anerkennen lässt. »Wenn bis zum heutigen Tag Klassiker definiert werden als Texte, die nie alt werden, spielt man damit auf diesen charakteristischen Zusammenhang von Historizität und Klassizität an« (ebd.: 119).

Die geistigen Strömungen im 19. Jahrhundert sind für diese Vorstellungen von Belang, entwerfen das theoretische Fundament für das Programm der Klassik: Beharrendes (Klassizität) und Bewegendes (Historizität) sind zum Einklang zu bringen, zu verschränken gesucht, wo »eine gleichzeitige Anwesenheit dieser beiden Elemente, nämlich die Begegnung mit einer geschichtlichen Wirklichkeit (der griechischen) und ihre unmittelbare Idealisierung, die als objektive Verkörperung eines Allgemeinbegriffes der natürlichen Menschlichkeit eingesetzt wird« (Merker 1982: 128), gegeben ist. Das Ideal verkörpert ein allgemeines Prinzip – die Notwendigkeit –, die geschichtliche Wirklichkeit des Menschen dagegen das Feld der Veränderung – das der Freiheit. Der Glaube an die Versöhnung zwischen (Gesetz) »Notwendigkeit/Freiheit« trägt so insgesamt die Klassik in der Nachfolge Winckelmanns. Ein ganzes Programm zur Menschenbildung ist darin zu erkennen. War die »Aufklärung« eher vernunftdurchtränkt und der »Sturm und Drang« gefühlsbetont, so will die »Klassik« nunmehr beide Momente in sich vereinen und setzt eine allseits gebildete Persönlichkeit zum Ziel. Auf diese Weise erfahren, so der Glaube, das individuelle wie auch gesellschaftliche Sein gleichermaßen ihre Berücksichtigung. Die harmonische und sittliche Vervollkommnung sollen das Menschenwesen und die Gesellschaft läutern, keine Revolutionen. Zum harmonischen Ausgleich sollen insgesamt kommen: »Verstand/Gefühl«; »Geist/Natur«; »Pflicht/Neigung«; »Gesellschaft/Individuum«.

Und gelingen soll dies gerade über die Auseinandersetzung mit Kunst. Ganz wesentlich für die Entwicklung dieser Ideen sind – wie schon erwähnt – die Schriften des Archäologen und Kunstgelehrten Johann Joachim Winckelmann (1717–1768). Das Aufheben von Gegensätzen im harmonischen Ganzen und das anzustrebende Ideal nach Vollkommenheit sind die Zielsetzungen klassischen Denkens. Der sinnliche Trieb und die Gesetze der Vernunft sollen in Harmonie zusammengeführt und das reale »Sein« (Wirklichkeit) soll am »Sollen« (Wahrheit) ausgerichtet werden. Winckelmann verbindet Ethik und Ästhetik, indem er die Formvollendung antiker Skulpturen, deren Schönheit, an die Menschenbildung koppelt. Er spricht von der »edle[n] Einfalt und stille[n] Größe« der griechischen Plastiken, in denen sich Seelenzustände ausdrückten. In der harmonischen Gestaltung spiegelt sich die »schöne« oder besser: »eine große und gesetzte Seele«.

Nicht von ungefähr soll das sich vollendet im Kunstwerk ausdrücken, da dem Menschen dies selber möglich scheint. »Der Mensch vermag gar manches durch zweckmäßigen Gebrauch einzelner Kräfte, er vermag das Außerordentliche durch Verbindung mehrerer Fähigkeiten; aber das Einzige, ganz Unerwartete leistet er nur, wenn sich die sämtlichen Eigenschaften gleichmäßig in ihm vereinigen. [. . . ] Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem großen, schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein reines, freies Entzücken gewährt – dann würde das


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