- 43 -Schläbitz, Norbert: Mit System ins Durcheinander  
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auf Differenz, was das menschliche Moment in sich trägt (Andersartigkeit und Neuigkeit). Die Folge ist oft eine »Reformulierung der Einheit des Vorgängerstils ohne Rücksicht auf das, was für diesen wichtig und zugänglich gewesen war« (Luhmann 1995: 211). Ein solches Vorgehen und das Abstand nehmen zu Vorgängerstilen mindert zunächst die Gefahr zur kritiklosen Kanonisierung, denn eine solche sowie eine Auratisierung verdecken auf Dauer eines: »Langeweile schleicht sich ein« (Luhmann 1986: 629). Das Bewusstsein für Stil, der sich von Zeit zu Zeit verändert und daraus seine Wertschätzung erhält, ist kommunikativ gepflegt, ist aus dem System der Kunst kommunikativ geschöpft, das bestimmt, was variant und invariant ist sowie lose und feste Kopplungen miteinander verknüpft. Mit der Rückwendung zur Antike und dem Programm von Winckelmann zur Nachahmung wurde Kunstgeschichte, die bis dahin mit dem Sammeln von Artefakten und Erschließen von Künstlerbiographien beschäftigt war, zur Stilgeschichte, die übriggebliebene und wiederentdeckte Stückwerke gewissenhaft analysierte, ästhetisch würdigte und in der Zeit verankerte.

Temporalisierter Stil auf der einen Seite evoziert Zeitlosigkeit in Gestalt des Klassischen und des Musealen. Mit einer Stilgeschichte beginnen Werke zu altern, können klassisch und zum zeitlosen Vorbild werden, es werden zugleich aber auch neue Stile begründet. »Die Form Stil verarbeit den Neuerungsdruck und mit ihm die Temporalität aller Formen – mit heimlichen Seitenblick auf ein ewiges Leben nach dem Ende der eigenen Zeit. Die Form Museum und die Form Klassik leben davon, daß sie dem Stilwandel standhalten und gerade darin ihren eigenen Sinn haben« (Luhmann 1995: 213). Auf diese Weise – auch mit Rückgriff auf die eigene Sterblichkeit und dem menschlichen verständlichen Wunsch ein bleibendes, individuelles Zeitzeichen zu setzen – wurde Überzeitlichkeit praktisch installiert. »Das Fundament humanistischer Traditionsbildung schuf eine neue Norm: die Norm des Klassischen. Diese Norm unterscheidet sich von der Norm der Heiligen, der Norm des Gesetzes und der Norm der autoritativen Wahrheit. Ihre besondere Bindungskraft beruht auf ästhetischer Qualität, d.h. auf der zwingenden Evidenz des Vollkommenen« (Assmann 1999: 116). So werden menschliche Leistungen und Werke wieder mit überzeitlichen Vorstellungen verbunden, die als ästhetisch geformte und auf Hochglanz gehaltene Pfeiler dem Fluss des Werdens widerstehen. »[D]as Merkmal des Klassischen ist die Affirmation von Gleichzeitigkeit bei manifest gewordener Nachzeitigkeit« (ebd.: 118). Aus der zeitlichen Distanz sind die Erzeugnisse der Vergangenheit betrachtet, wobei der »Faktor Zeit« ausgefiltert wird und zugleich eine Spannung von »Identität in der Alterität, der Nähe im Fernen«, was dem Klassischen inhärent ist, erzeugt wird (ebd.: 118). Indem das Interesse dem Vergangenen, einer abgeschlossenen, ja toten Sache gilt, über die der zeitbedingte Wandel hinweggegangen ist, sind klassische, dauerhafte Werke inauguriert, denen mit Hochachtung begegnet wird. Eine Präsenz des Klassischen ist gerade dann festzustellen, wenn es zeitbedingt dem Zugriff entzogen ist und nur über das Supplement (Schrift-, Notenzeichen, Baudenkmäler) gewonnen werden kann. So setzt das Ewige auf das Verstorbene, ist zum Zwecke dauerhaften »Seins« auf das »Nicht-Sein«, dessen Absenz zwingend angewiesen. Es wird eine Gesprächskultur mit den stummen Zeichen gepflegt, diese mit Geist und Fantasie gefüllt und wiederbelebt. Werke können auf diese Weise im »Nicht-Sein« gedeihen und zeitlos scheinen und


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