Fortschritt ohne ein Vergessen« (Adorno
111992: 312), was Folge auch dessen ist, »weil Neuerer [. . . ] selten des Älteren
mächtiger [sind] als ihre Vorgänger; oft weniger mächtig« (ebd.).
So ist dem
Vergessen entgegenzuarbeiten, denn verloren ginge die alte Kunst, weil Musik in
dieser Weise Gestalt zu verleihen keinen Innovationsaspekt in sich mehr trüge,
und zur Vermeidung von Redundanz und Langeweile es unsinnig wäre so zu
komponieren wie die Väter und Vorväter. »Die mit dem Stilbegriff festgelegte
Auffassung, ›daß man so nicht mehr und niemals wieder arbeiten kann‹, zwingt dazu,
etwas zur Erhaltung der unreproduzierbaren Gegenstände zu tun« (Luhmann
1995: 212). Nur als klingendes Denkmal, an dem man Gefallen findet, vermögen
sie noch zu überleben. Klassisch ist im Grunde das, dessen gesellschaftlicher
Funktionszusammenhang erloschen ist und so keine Lebendigkeit mehr beweist.
Deutlicher noch:
Erst, wo etwas tot ist, kann es zum Denkmal konserviert auch klassisch
werden.
Wie kommt es dazu, dass Werke altern können, sodass sie klassisch werden können?
Und wie kommt es dazu, dass eine solch klassisch genannte Musik einerseits ehrwürdig
anerkannt ist, andererseits aber wenig komponierende Nachahmer findet, auch weil deren
Musik wenig Würdigung fände. Was wiederum hat die so kritische Fortschrittshaltung
damit zu tun? Spätestens seit dem 17. Jahrhundert ist die Kunst nicht allein an
vorgegebenen Idealen orientiert, die Komponisten zum Vorbild gereicht, sondern diese
interessiert sich für das Neue und so für die Abweichung (vgl. Luhmann 1986:
628).7
Diese Tendenz dem Neuen Vorrang vor dem Alten zu gebieten, ist nicht allein ein Phänomen,
das der Kunst vorbehalten oder nur dort zu beobachten war. Auch die Naturwissenschaften
ändern grundlegend die Blickrichtung, suchen das Wissen nicht mehr in unantastbar
geltenden Büchern der Vergangenheit, sondern im Lesen des »Buches der Natur« – eine
Sichtweise, die vom 16. Jahrhundert ihren Ausgang nahm. Damit wurde – was ganz
allgemein kennzeichnend für die Neuzeit ist – Abstand genommen von einem Wissen,
das sich durch Neuinterpretation autoritativer Texte erschließen sollte. Der Blick wurde
so unmittelbar auf die »Naturwelt« gerichtet und nicht allein mehr auf Bücher, die sich
allein durch den anerkannten Namen des Autors legitimierten, sodass Wahrheit eine im
Grunde namensgebundene war. Wie festgefügt der reine Buchglaube sich einst darbot, mag
ein Beispiel verdeutlichen. An einer Leiche demonstriert ein Anatom des 17. Jhrdts, dass
der Nervenstamm vom Hirn ausgeht und nicht, wie das Buchwissen dies darlegt, vom
Herzen. Ein Buchgelehrter hingegen – der Tradition noch verpflichtet – sagt nach dieser
Demonstration: »Ihr habt mir das alles so klar, so augenfällig gezeigt – stünde nicht der Text
des Aristoteles dagegen, der deutlich besagt, der Nervenursprung liege im Herzen, man sähe
sich zu dem Zugeständnis gezwungen, daß ihr Recht habt« (Galilei, zitiert nach Spierling
51997: 143). Während die Erforschung der Natur ein Feld der überraschenden Ergebnisse,
der neuen Erkenntnisse sowie der daraus resultierenden Erfindungen beschreibt, verbleibt
das Räsonnieren über das buchgemäße Wissen im Bereich des Bekannten, das sich im Kreise
dreht und allein die Redundanz belebt. Das Prinzip der Induktion löst in der Wissenschaft
das zuvor dominierende Prinzip der Deduktion ab und diese Form der Lesart privilegierende
Wissenschaftsvertreter setzen sodann prominent auf das »Neue«. »Die Protagonisten der
wissenschaftlichen Revolution einte ein [. . . ] starkes Band – das Bewußtsein, dass durch ihr
Werk etwas Neues entstehe. Der Begriff novus kehrt mit nahezu obsessiver Häufigeit in
Hunderten von Titeln wissenschaftlicher Bücher des 17. Jahrhunderts wieder – von der Nova
de universis philosophia Francesco Patrizis und der Newe Attractive Robert Normans über
das Novum Organum Bacons bis hin zur Astronomia Nova Keplers und den Discorsi intorno
a due nuove scienze von Galilei« (Rossi 1997: 16).
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Das hat nicht zuletzt mit dem Buchdruck bzw. mit dem Gutenbergschen Druckverfahren
zu tun, der/das die Innovation in den Vordergrund rückte. Ideenwelten werden
pluralisiert auch deshalb, weil Autoren einerseits nicht mehr recht wissen können, wie
Verstehenshorizonte am anderen