- 40 -Schläbitz, Norbert: Mit System ins Durcheinander  
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eine große ästhetisch-moralische Leistung – die Unmöglichkeit dieses Versuchs eingesehen und nach einigen Jahren leidenschaftlicher Anstrengung darauf verzichtet; [. . . ]. Die Erklärung solcher Phänomene ist wohl, daß auch die tonalen Mittel, die er zuzeiten als natürliche Urgegebenheit betrachtete und wiederherstellen wollte, gar keine Urgegebenheit sind, sondern selber ein geschichtlich Entsprungenes, Entstandenes, Gewordenes und damit auch Vergängliches« (Adorno 1965: 133). So hat auch die Tonalität für Verfechter des auf der Höhe der Zeit zu stehenden musikalischen Materials und Fortschritts den Wandel zum klassischen Motiv vollzogen, das seine Zeit hatte und nach seinem Ende bloß noch schematisch, schablonenhaft klingt. »Man hört durchs Neuere einst verborgene Schwächen des Älteren, sehr vieles klingt schablonenhaft, das es zu seiner Zeit nicht war. Bereits der in diesen Dingen sehr alerte Richard Wagner hat das registriert. Respektlos, aber aufrichtig formulierte er, daß er bei manchen Stücken von Mozart das Klappern des Geschirrs auf dem Tisch vernähme: Tafelmusik, auch wo sie gar nicht als solche gedacht war. Nach dem Schema konnte man komponieren, solange es als solches nicht hervortrat, solange es noch eins war mit den selbstverständlichen Voraussetzungen des Komponierens« (ebd.: 133f.). Mit der Erkenntnis ist der Dolchstoß gesetzt, das Geheimnis als das entschlüsselt, was es nicht ist, die Form, das Schema auf ewig – so scheint es – überwunden. Das traditionsgemäße Fortschrittsdenken lässt nicht zu, die kompositionstechnischen Schablonen der Vergangenheit zu aktualisieren, da ihr Wert nur aus ihrer Zeit heraus verständlich und dort verortet wird. Die Befähigung so komponieren zu können, wie man nicht mehr komponieren soll, qualifiziert den Befähigten anders komponieren zu dürfen. Darin liegt ihr Sinn und Zweck. »[W]er heute Musik schreiben wollte, als wäre nichts geschehen, der bewahrte nicht seine Integrität, sondern würde zum Imitator von Veraltetem; etwa so wie ein Banause, der ohne Kenntnis der modernen Literatur seine Liebesgedichte schmiert, keinen Neuschnee betritt, sondern Modelle von Heine aufwärmt, selbst wenn er sie gar nicht kennt« (Adorno 2003b: 832).

Zwar ist die Musik vergangener Zeiten in der Aufführung – mit aller Vorsicht auf die in wandelnden Zeiten unterschiedlichen Interpretationspraxen formuliert – »reproduzierbar«, doch es lohnt nicht, noch so zu komponieren, was alte Musik – trotz der Vielzahl von Einspielungen – selten macht. Aus der Knappheit eines Gutes aber gerinnt ein Wert, der an sich dann »sein« soll. Selbst wenn eine im Stile einer vergangenen Zeit neukomponierte Musik gefällig ist oder gar hervorragend komponiert, darf folglich bezweifelt werden, dass sie Musikgeschichte schreiben wird. Das hat endlich damit zu tun, dass mit der Qualifizierung »Klassiker« die wertgeschätzten Vorbilder aufgenommen sind in den musealen Olymp und bewegungslose Denkmäler geworden sind: Denkmäler, die man hin und wieder gerne betrachtet bzw. hört, genießt, aus der zeitlichen Distanz erklärt, dabei verklärt und dann wieder zurückstellt. Die Musik hat Seltenheitswert deshalb, weil sie schlicht historisch geworden ist. Mit der Historisierung und mit der begleitenden Erhebung zum Klassiker wird (Musik-)Kunst zu erhalten und zu bewahren gesucht, die sonst verloren ginge, vergessen würde.6

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Allerdings kann sie zu einem späteren Zeitpunkt wiederentdeckt werden, sofern sie schriftlich nur niedergelegt ist. Ewigkeit baut so auf auch auf der bewahrenden Endlichkeit von Schrift, die erhält.
Wie schrieb schon Adorno: »Kein ästhetischer
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