- 38 -Schläbitz, Norbert: Mit System ins Durcheinander  
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kommunizierten Wissensstandards und kann fraglos insgesamt auch recht kurz bemessen sein, wenn Kommunikation nur in andere Richtungen geht, neue Anschlüsse tätigt, alte beschließt oder marginal nur noch aufrechterhält. Was heute noch ewig scheint, kann morgen schon verworfen und alsbald vergessen sein.

Wiederentdeckungen in den Künsten stellen ein beredtes Zeichen für die Kurzlebigkeit oder auch Geburt von Ewigkeitswerten in Werken dar. Bach und Händel – auf Dauer vergessen – mussten erst wiederentdeckt werden, bevor ihre Musik die Würdigung fand, die sie heute hat. Das Interessante daran ist: »›Künstlerischen Wiederentdeckungen‹ gehen [. . . ] negative Urteile und Maßnahmen voraus, die man als antikonservatorisch nennen könnte. Derartige Abwertungen sind im allgemeinen weniger erforscht als die Rehabilitierungen« (Gamboni 1998: 328). Duchamp hat die Relativität von Wertschätzungen – recht rüde allerdings – einmal mit den Worten umschrieben: »[E]s gibt kein äußeres Merkmal, das erklärt, warum ein Fra Angelico und ein Leonardo gleichermaßen ›anerkannt‹ sind. Alles geschieht aus reinem Zufall. Künstler, die zu Lebzeiten wussten, wie sie ihrem Schund Wertschätzung verschaffen konnten, waren sicher gute Handlungsreisende, nichts garantiert aber die Unsterblichkeit ihres Werkes. Und selbst die Nachwelt ist eine reine Hure, die sich dem einen entzieht, den anderen wieder zu Ehren kommen lässt (El Greco), und sich die Freiheit nimmt, ihre Meinung alle fünfzig Jahre wieder zu ändern« (Duchamp, zitiert nach Gamboni 1998 325). Wenn wir einmal die drastischen Klassifizierungen außen vor lassen, bleibt sodann eine Aussage bestehen, die eine gewisse Plausibilität in sich trägt und der schwierig zu widersprechen ist. Denn auch was heute alles an Gründen angeführt werden mag, was ein Werk zum zeitlosen erklärt, mag zu anderen Zeiten prinzipiell als vollkommen gegenstandslos erachtet werden bzw. zu einer gegenteiligen Meinung führen. Bach und Händel haben zu ihrer Zeit »Gebrauchsmusik« geschrieben, nicht für die Ewigkeit, sondern für den andächtigen oder erlebnisträchtigen Moment. Eine Etikettierung des Zeitlosen ist ihnen nachgerade erst verliehen und aufgedrückt worden. Der unsichere Kantonist Kommunikation hat so seine Meinung im Verlaufe der Zeit geändert.

Dass darüber hinaus das Charisma einer Persönlichkeit oder der persönliche Machtwillen und das Darstellungsvermögen zuweilen künstlerische Wertschätzungen und kommunikative Prozesse maßgeblich mitbedingt haben und Diskurse weiter mitbedingen, indem Aufmerksamkeit erregt wird und andere aus dem öffentlichen Diskurs ausgegrenzt werden, ist keineswegs die Seltenheit, manchmal sogar die Regel.5

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Das gilt im Übrigen nicht nur im Bereich der Kunst, sondern gleichsam dort, wo eigentlich allein die von der Ratio bestimmte Sache im Zentrum stehen sollte: im wissenschaftlichen Diskurs. Neue Sichtweisen setzen sich im Wissenschaftsdiskurs zuweilen weniger durch Einsicht durch, sondern, »wie Max Planck einmal resignierend festgestellt hat, durch das Aussterben der älteren Generation« (Gloy 1995: 277). Karen Gloy stellt mit Bezug auf Kuhn heraus, dass die Wissenschaftsgeschichte nicht allein von rationalen Argumenten bestimmt ist, sondern nicht unwesentlich von »Überredung, Propaganda, Konkurrenzkampf, religiöse[m] Eifer, Tod, Absterben« (ebd.) usf. Und Vittorio Hösle formuliert zwar vorsichtiger, doch ebenso unmissverständlich: »Ferner ist nicht auszuschließen, daß ein Teil des Erfolgs der modernen Wissenschaften auf Machtstrukturen bei ihrer Organisation zurückgeht – Machtstrukturen, die alternative Denkweisen ausschließen« (Hösle 1999: 8).
Mit anderen Worten bleibt das verliehene Etikett von Wert als solchem und Ewigkeit darüber hinaus – bei allem analytischen Begründen – den herrschenden
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