betroffen, hat auch diese einst eine fortschreitende Entwicklung genommen. »Der
Schritt vom zyklischen Zeitverstehen, das auf rhythmischer Wiederholung und auf
Naturzeit basierte, hin zum linearen Zeitverstehen der Neuzeit ist in der Musikgeschichte
auffallend klar dokumentiert. Auf allen Ebenen der musikalischen Komposition seit etwa
1200 – ob Rhythmik, Stimmführung, Harmonik oder Werkgestalt – sind das Vordringen
des linearen Zeitbewußtseins, ein Dynamismus auf Künftiges zu, die Orientierung auf das
Ende hin (Finalorientierung) und ein Fortschrittsdenken festzustellen. [. . . ] Das
Nach-vorne-Eilen oder Von-der-Stelle-Müssen, das den linearen Zeitbegriff des
Mitteleuropäers zunehmend auszeichnete, findet in der Musik sein Äquivalent im
Leitton: [. . . ]. [. . . ] Die Anfänge der Leittonbildung findet man mit Beginn der
Renaissance: [. . . ]. [. . . ] Nicht nur die Struktur des Tonsatzes mit seinen Leittönen,
sondern auch die ganze Werkkonzeption wird zunehmend finalorientierter. [. . . ] Die
Musik Bachs war gänzlich auf den Schluß hin angelegt. [. . . ] Bei Ludwig van Beethoven
(1770–1827) wurde das Erreichen des Schlußakkordes zum Sinngehalt seiner Musik. [. . . ]
Gerade die großbürgerliche Musik des 19. Jahrhunderts mit ihrer Verabsolutierung von
Leittönigkeit und linearer Zeitstruktur ist diejenige Musik, die heutzutage am meisten
aufgeführt, auf CD oder LP gespielt und gehört wird. Beethoven, Schumann,
Brahms, Wagner, Bruckner, Berlioz . . . das sind Namen, die landauf landab
das Konzertrepertoire bestimmen. [. . . ] Die großbürgerliche Musik entspricht
uns in unserem Innersten, denn wir sind selber als ›Leittöne‹ erzogen worden.
[. . . ] ›Leittönigkeit‹ heißt für uns, Leben immer nur in der Zukunft zuzulassen.
›Leittönigkeit‹ schließt Lebendigkeit, Leben in der Gegenwart – und damit
Lebensqualität aus. [. . . ] Das Leben findet nur im Jetzt statt« (Schneider 1991:
63–68). Möglich, dass die immaterielle Kultur über Jahrhunderte eingeschriebene
Gedanken in Frage zu stellen und eine neue Schreibkultur