- 26 -Schläbitz, Norbert: Mit System ins Durcheinander  
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»[S]ynthetische Klangerzeugung weiß längst die Klangfarben der meisten Instrumente trotz wandernder Formantregionen täuschend ähnlich nachzuahmen; was zurzeit in der Nachahmung noch fehlt, sind die charakteristischen Unwägbarkeiten von Anblasgeräuschen und Einschwingvorgängen, die in unmittelbarer Nachbarschaft zur menschlichen Unzulänglichkeit stehen, – eine rettende Barmherzigkeit der Individualität. Auch wenn der im Übrigen relativ leicht zu täuschende desensibilisierte Mensch die perfekte Kopie nicht mehr vom Original zu unterscheiden weiß, ändert sich nichts am substantiellen Unterschied zwischen Original und Kopie, zwischen Wahrheit und Lüge« (Steinschulte 2000: 17).3
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Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird mehrfach auf den genannten Aufsatz von Steinschulte Bezug genommen. Das sieht seinen Grund darin, dass Steinschulte 1. sehr prägnant formuliert und 2. Ansichten vertritt, denen so oder ähnlich immer wieder begegnet wird. Er nimmt sozusagen eine Stellvertreterfunktion für andere mögliche Stellungsnahmen ein.
So werden dann – mit Verlaub – schiere Horrorszenarios beschworen und ist von Klangfarbenverarmung und vom Verlust sinnstiftender Proportionen – wie bei Steinschulte – die Rede, wo man sich auf der sicheren Seite der »Wahr«-Sprechenden glaubt, die sich um die Charakteristik oder um die Definition des authentisch Echten sicher wähnen.

Aber recht besehen – um auf die vorab angeführten Beispiele zurückzukommen – ist das Buch doch ebenfalls ein ziemlich künstliches Artefakt, einmal ganz davon abgesehen, dass die darin entworfenen Welten stets die Kopfgeburten desjenigen sind, der da liest. Was immer sich auf den Seiten zwischen Buchrücken verbirgt, mögen es Buchstaben oder Notenzeichen sein, ist zunächst einmal eine interpretationswürdige Differenz, die von Lesern sinnfällig gemacht wird. Es sind in der Regel schlichte schwarze Zeichen auf weißem Grund. »In der Terminologie der Rezeptionstheorie ›konkretisiert‹ der Leser das literarische Werk, das selbst nicht mehr ist als eine Kette von auf einer Seite angeordneten schwarzen Punkten. Ohne die fortwährende aktive Partizipation auf der Leserseite gäbe es überhaupt kein literarisches Werk« (Eagleton 41997: 43) und natürlich, wie zu ergänzen ist, auch keine symbolisch codierte Musik, die für sich schon Werk wäre oder irgendeinen Wert hätte.

Und auch bei Klavieren wird – mit dem Niederdrücken einer Taste – ein mechanisches Programm in Gang gesetzt, nicht viel anders als es beim Computer der Fall ist, wo Bits programmatisch bewegt werden. Das Klavier ist daher nichts anderes als – so seltsam das in manchem Ohr klingen mag – ein mechanischer Computer, der mit den Zuständen ›on‹ und ›off‹ operiert. (Hiervon wird an anderer Stelle noch ausführlicher die Rede sein.) Schließlich kann auch der talentierteste Klavierspieler bei der Tonerzeugung mit dem Niederdrücken einer Taste (Zustand ›on‹) nicht mehr machen als sein untalentiertes Gegenüber. Man könnte daher sagen: Das Wahrheit des Klaviers ist nicht auf der Seite des »Echten« zu verorten, sondern auf der anderen Seite: im »Unechten«. (Daraus wäre dann ein Definitionsmerkmal für Instrumente abzuleiten, wie es die Lexika-Literatur im Übrigen auch macht – wir kommen darauf zurück).

Schon an dieser Stelle kann man die Vermutung aufstellen: Es scheint das Unechte zu sein, was zum Qualitätsmaßstab gerinnt und Menschsein allgegenwärtig umsteht. Entkleiden wir daher das Unechte seines Negativwertes und übersetzen es mit: Kultur. Das klingt schon ganz anders und beschreibt doch denselben Sachverhalt.


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