- 16 -Schläbitz, Norbert: Mit System ins Durcheinander  
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der Sphäre des Göttlichen so nahe, der irdischen Sphäre praktisch damit entzogen: ewiglich – universal. Und wenn von Entwicklung die Rede ist, »ist die Analogie zwischen historischer und individueller Entwicklung« (ebd.: 423) von Bedeutung. Dabei ist im Grunde ein Voranschreiten im Sinne einer physiologisch-psychologischen Reifung angenommen, die sich, der Kontinuität verpflichtet, notwendig Bahn bricht und die sich menschlicher Einflussnahme weitgehend verweigert. Die Entwicklung »wird [. . . ] als ein objektives, einer Rechtfertigung oder Begründung weder fähiges noch bedürftiges Geschehen in einer Welt angesehen, die ihrem Wesen nach ständig in Bewegung ist . . . So kommt der Entwicklungsgedanke dem anscheinend allgemein-menschlichen Bedürfnis entgegen, dem Faktischen die Würde des Notwendigen zu geben« (Wieland, zitiert nach Daniel 2001: 425). So sind auch hier dann Regelungen, Eigengesetzlichkeiten zu erforschen, zu ergründen, die sind, wie sie sind, und logisch-konsequente Abläufe zu erschließen.

»Kontingenzdenken«, das klingt dagegen nach Beliebigkeit. Ist die Musik eines Beethovens so ein Zufallsprodukt, Summe zahlloser ineinandergreifender, nicht genau erschließbarer Faktoren? Hätte sie nicht auch gänzlich anders sein können, wenn zufällig aufgetretene Ereignis- und Stimmungslagen, Begegnungen oder körperliche Befindlichkeiten u.a.m. nur zufällig ein wenig anders gelagert gewesen wären? Ist die gesellschaftliche (politische, künstlerische . . . ) Großwetterlage von Zufällen, Diskontinuitäten bestimmt, sodass sie und die daraus entworfenen Zeiten überdauernden Zeitzeichen kontingent zu denken und zu lesen sind? Sind diese Zeitzeichen nur auf ihre innere Kongruenz, ihr notwendiges Sein hin zu prüfen oder nicht auch auf ihr prinzipielles Anderssein? Ist sodann ein ausgelotetes Anderssein »notwendigerweise«(!) defizitär gegenüber Gestalt gewordenen früheren Zeitzeichen? . . .

Insgesamt geht es beim Berücksichtigen der Kontingenz um den Umgang mit Komplexität, um das Ausloten von Möglichkeiten, um das Relativieren starrer Ordnungsraster. Das Berücksichtigen von Kontingenz oder auch die Annahme von Polyvalenz ist keineswegs so mit Beliebigkeit oder auch Richtungslosigkeit gleichzusetzen, sondern es ist das Bemühen angezeigt, globalen Erfordernissen gerecht zu werden, die sich nicht mehr auf trivial-lineare Prozesse herunterdeklinieren lassen.

Die Sicherheit (von Dorfgemeinschaften) ist nicht (mehr) zu haben und das Risiko möglicher Fehlentscheidungen zu tragen. Die Welt, in der man die Notwendigkeit noch hofierte, ist längst Geschichte und deren Sicherungen sind aufgehoben, was im einst notwendig gedachten Gang aller Geschichte wohl so nicht vorgesehen war. Bestenfalls hegelianisch verklärt kann man einen notwendigen Gang daraus noch ableiten, der am Ende zum Guten oder Weltgeist sich fügt. Eine bekannte Sentenz von Hegel besagt, dass Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit sei. Geleistet ist eine dem Stoizismus zusprechende Rede, der bekanntermaßen die Vermeidung von Gefährdungen durch die Vorsicht betreibt. Mit anderen Worten: Die Proklamation der Indifferenz – des ungelebten Lebens – ist bedeutet, indem die Sicherheit in der Seins-Unempfindlichkeit gesucht ist. Aber selbst dies bietet keine Gewähr, den gefährlichen Klippen des Lebens zu entgehen, wenn man Kafkas Worten folgt, der einmal schrieb: »[G]erade die Vorsicht verlangt, wie leider so oft, das Risiko des Lebens« (Franz Kafka 1996: 132). Kafka mag geradezu paradigmatisch für ein Denken der Kontingenz stehen. Einerseits suchte er den ihm auferlegten (scheinbaren) Notwendigkeiten Folge zu leisten, andererseits entfloh er ihnen mit dem Mittel


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