bildliche Darstellungen
der rāga-s und rāginī-s, häufig begleitet von poetischen Meditationsversen, welche die
persönlichen bzw. charakterlichen Eigenschaften sowie den emotionalen Gehalt der rāga-s
illustrieren.
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Während das Konzept der rasa in seiner konkreten Realisierung, nicht
jedoch in seiner Grundidee an Bedeutung verliert, um einer immer stärker
werdenden Individualisierung der rāga-s Platz zu machen, gewinnen spezifische
Charaktereigenschaften und emotionale Aspekte an ästhetischer Relevanz. »Even today,
though Ragamala paintings do not really seem to portray significant musical
features, the very fact that pictoral and anthropomorphic representations became
quite prominent over the ›syntactic models‹ in describing the individuality of
each raga, points to important changes in the aesthetics underlying the raga
system.«
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In einem Land wie Indien, das eine orale Musiktradition pflegt und in dessen
Alltagsleben Mystik und Spiritualität noch heute eine große Rolle spielen, darf
im Hinblick auf die musikalische Ästhetik eine weitere Komponente nicht
vergessen werden: die der Erzählung. Am Hof des Moghul-Herrschers Akbar
(1542–1605)
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wirkte der zur Legende gewordene Musiker Miyāṃ Tānasena
(1530–1595),
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dessen ungeheures musikalisches Können Anlass zu etlichen, noch heute zirkulierenden
Anekdoten gab. So wird beispielsweise von ihm erzählt, dass er mit Hilfe des rāga Dipāka Feuer entfachen oder durch den von ihm komponierten rāga Myāṃ-ki-Malhār
Regen erzeugen konnte. Wohl kaum einem indischen Musiker sind diese Geschichten
unbekannt und sowohl bei Konzerten als auch im privaten Kreis werden sie gerne
zum besten gegeben, wie der Verfasser bei seinen Indienaufenthalten feststellen
durfte.
2.6. Musikästhetische Entwicklungen im 20. Jahrhundert
Der enge Zusammenhang von rasa als ästhetischem Konzept auf der einen und rāga als
musikalischem Konzept auf der anderen Seite wird auch im 20. Jahrhundert nur von den
wenigsten Musikern und Musiktheoretikern bestritten. Als zunehmendes Problem
entpuppt sich allerdings die Tatsache, dass sich aus den altindischen Schriften nicht
rekonstruieren lässt, warum ein bestimmter rāga Träger seines spezifischen emotionalen
Gehalts sein soll, und welche musikalischen Parameter die emotionale Reaktion beim
Zuhörer auslösen. Um diese Fragestellungen kreisen die musikästhetischen Debatten des
20. Jahrhunderts.
Innerhalb dieser Debatten lassen sich vier grobe Richtungen ausmachen:
- Autoren, welche die altindische rasa-Theorie, wie sie im Nāṭyaśāstra
beschrieben ist, ohne Modifikationen bezüglich des zeitgenössischen rāga-Konzepts
übernehmen
- Autoren, die unabhängige Erklärungsmodelle entweder auf Grundlage oder im
Widerspruch zur rāga-rasa Assoziation entwickeln
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